Sonntag, 29. April 2012

Ich bin ein Groupie


Auf dem Lungomare in einer Stadt in der Nähe von uns versammeln sich die Breakdancer und auch unsere großen Jungen sollen dort tanzen. Keiner hat extremes Interesse, aber wir fahren dort hin. Es ist frühsommerliches Wetter und auf dem Lungomare sind viele Menschen unterwegs. Der Rallyefahrer kommentiert trocken: "Ich will wieder heim". Sein großer Bruder ist sicher, dass er eine Performance abgeben wird, nachdem er sich erklären hat lassen, was eine Performance ist und dauernd etwas einzuwenden hatte, als ich sagte, das sei wie eine Theateraufführung ohne Theater. Was Besseres ist mir nicht eingefallen, denn ich war sehr müde, da MM in der Nacht um halb zwei ins Spital gebracht werden wollte, weil er sich nicht mehr sicher war, ob er seine Medizin ein oder zweimal genommen hatte. Es war eine anstrengende Nacht, aber eine von denen, in denen sich die Prioritäten im Leben klar abzeichnen. Im Spital war eine Großfamilie mit Freunden zugegen, die ein Mädchen, das sich den Kopf bei einem Autounfall angeschlagen hatte, durch ihren Leidensweg in der Notaufnahme begleiteten. Die Männer der Kusinen sagten, es sei Zeit, jetzt nach Hause zu gehen, aber die Kusinen und die Tanten wollten bleiben. "Du hast mit ihnen geweint, stimmt's?" glaubt MM zu wissen, als es ihm besser geht. Nein, da hat keiner geweint, im Gegenteil, die haben herzlich gelacht. Ich nehme an, wenn das Ganze länger gedauert hätte, hätten sie was zu essen und zu trinken aufgetrieben.
So sind wir also auf diesem Lungomare, die Eltern sind müde, aber froh, am Leben zu sein, die Jungen sind wach und wollen sterben. Die Breakdancer sind sehenswert und sie haben dementsprechend viel Publikum. Meine beiden Söhne verziehen sich möglichst weit nach hinten. "Mamma, ich bekomme einen Herzinfarkt." gesteht der Rallyefahrer, sein 14-jähriger Bruder sieht gerade aus wie 8. Dem Kind ist das alles egal, denn er ist Balletttänzer und total entspannt. Einer der Lehrer entdeckt meine Kinder und stellt sie einem anderen Lehrer vor, alle begrüßen sich mit einem Breakdancer-Gruß, der an Raumschiff Enterprise erinnert. Spinnweben liegen über mir. Der 14-Jährige sieht jetzt aus wie 7, der Rallyefahrer ist sichtlich unangenehm berührt. Nach der Begrüßung ziehen sich die Jungs wieder zu Mamma und Papa an den Rand des Geschehens zurück. Auf der Tanzfläche, wenn man den Raum zwischen den umstehenden Teilnehmern und Zusehern so nennen will, machen die Breakdancer einer nach dem anderen ihre Überschläge, Kopfstände und gefakten Kämpfe. Es sind auch einige Mädels dabei, eine von ihnen steht ein paar Minuten auf den Händen und bewegt rhythmisch ihre Beine. Was zu sehen ist, wäre auch Eintritt wert. Die Spaziergänger des Lungomare sind sichtlich beeindruckt. Es gibt auch kleine Buben, die unter sieben sind und die sich in Kopfständen versuchen. Irgendeiner der fotografierenden Männer muss wohl ein Vater von denen sein. Ciccio, einer der Lehrer, wirft dem Rallyefahrer einen Blick zu und dann geschieht das Unvorhergesehene: Der Rallyefahrer, der fast in seiner gesamten Schulzeit keine mündliche Prüfung abgelegt hat, weil er kein Wort öffentlich gesprochen hat, was er aber seit kurzem doch zu tun scheint, gibt seinem Herzen sichtlich einen Stoß und betritt mit einem Ausdruck, den ich zu Hause als Aggression bezeichnen würde, die Tanzfläche, legt dort ziemlich viele, ziemlich schnelle Tanzschritte ab, macht eine verunglückte Kapriole und vertschüsst sich wieder. Applaus. Sein Bruder, der technisch viel besser ist, viel mutiger ist und viel mehr übt, betritt die Tanzfläche nicht, denn vorher ist die Veranstaltung aus.
So, jetzt.
Ich versuche, nicht zu weinen, denn ich weiß, der Rallyefahrer hat etwas Unglaubliches gemacht, nicht nur ganz persönlich, sondern durchaus allgemein, nicht alle Leute sind Selbstdarsteller. Nichts wird ihn mehr erschüttern können. MM ist sachlich und sagt, keiner hätte einen Rhythmus wie der Rallyefahrer, aber das liegt vielleicht daran, dass der Rallyefahrer getanzt hat, während die anderen akrobatisch zu Gange waren.
Nach der Veranstaltung üben ein paar hartgesottene Jungs am Strand Salto Mortale rückwärts, einer ist dabei, der wirklich gut erklären kann, wie das geht. Theoretisch kann ich es jetzt auch. Nun kommen die Mädels zum Rallyefahrer. Das ist eine neue Erfahrung für mich. Zwei Mädels sind aus seiner Breakdancegruppe, die Blonde ist atemlos. Die Rothaarige ist mutiger, die geht auf mein Kind zu und flirtet offensiv. Mir ist das ein bisschen peinlich, aber eher wegen mir selbst, denn ich war doch selbst noch vor kurzem die, die genauso direkt geflirtet hätte und jetzt bin ich die, die den Angeflirteten um halb zehn Uhr abends gnadenlos ins Bett schickt. Die, die weiß, dass er zwei Stunden vorher noch Schwierigkeiten mit der Umfangberechnung eines Dreiecks zeigte. Es wäre schön, wenn die Flirterin Virginia ihm das beibringen könnte. Was würde er im Gegenzug geben? Sein großes Herz, seine absolute Offenheit und seine extreme soziale Kompetenz, zu der auch Treue gehört. Virginia, du wärst in Sicherheit. Was aber wäre mit der blonden Dünnen, die sich, immer noch ohne zu atmen, wegdrehen muss?
Und was ist mit dem armen Bruder, der täglich fleißig übt und heute so in der Schatten gestellt wurde? Der hat keine andere Möglichkeit, als seinem Bruder zu sagen: "Du warst eine Niederlage". Das ist dem Rallyefahrer zu Recht ganz egal. Nur vor dem Einschlafen sagt er noch: "Aber ich habe immer nur dasselbe gemacht". Wenn ich nicht so müde gewesen wäre, hätte ich gesagt, dass das ein Element des Breakdance zu sein scheint. So sage ich, das macht nichts, jetzt hätte er seine Angst überwunden, das nächste Mal könne er sich überlegen, was er zeigen wolle. "Die mit dem Kapperl hat auch immer dasselbe gemacht", gibt das Kind zu bedenken. Allerdings auf den Händen stehend, nicht auf den Füßen, denke ich. Vielleicht findet das Kind das auch, denn es sagt: "Aber die war geil." Und dann gesteht er, welches Mädchen er in seiner Balletttanzgruppe geil findet. "Du hast einen guten Geschmack, gute Nacht", versuche ich das Gespräch wieder auf eine gepflegte Ebene zu bringen. Der 14-jährige schweigt. Ich glaube, er bereitet innerlich seinen großen Breakdance-Coup vor. Hoffentlich tut er sich nicht weh dabei.

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