Montag, 16. April 2012

Über die Gstätten



Als ich so alt war, wie meine Kinder heute, gab es in der großen Stadt am Fluss noch unverbautes, unbenutztes Gebiet. Eigentlich ist die Stadt nicht am Fluss, aber wir waren es. Es gab ein Überschwemmungsgebiet, das die Stadt, oder die Peripherie, die dort begann, vor dem Überschuss an Wasser bewahren sollte, und ich habe dort gespielt, mit Wasser und ohne und zwar allein. Offensichtlich hatten meine Eltern genug Vertrauen in mich, dass ich nicht ins Wasser stürzen würde. Menschen gab es dort wenige und die wenigen wurden nicht grundsätzlich als potentielle Gefahr gesehen. Ich stapfte durch ungeschnittenes Gras, stieg über Eisenbahnschienen, saß auf Stufen, die je nach dem Wasserstand des Flusses unter Wasser standen oder nicht, schaute auf die Schiffe, das vorbeifließende Wasser, sang und hielt Stöcke unter Wasser. Der breite und endlos lang scheinende Streifen Landschaft diente dem Zweck, Wasser über sich ergehen zu lassen und zu nichts anderem, er war nicht gepflegt, er war nicht schön. Es gab auch alte, nicht mehr in Betrieb befindliche Fabriken dort, deren verbliebene Fensterscheiben man bei Bedarf einschlagen konnte. Bei normalem Wasserstand war die Gegend unbenutzt. Unbenutzt, ein Luxus, den es heute nicht mehr gibt. Die Stadt, die sich effizient für die Freizeitgestaltung ihrer Bewohner einsetzt, hat das Problem mit den Überschwemmungen anders gelöst, und aus dem Überschwemmungsgebiet ein Freizeitparadies gemacht, in dem man Radfahren, Rollerskaten, Joggen und vieles mehr tun kann und wenn man genug davon getan hat, geht man in eines der dort ebenfalls vorhandenen Restaurants. Und wohin geht man, wenn man Liebeskummer hat und sich selber schwören muss, dass man bald auf eines dieser Frachtschiffe steigen wird, um ans Schwarze Meer zu fahren, in dem man sich dann endgültig ertränken wird? Wenn man nachdenken muss, wie man die unpassende, ungestüme Liebe zu einem ungeeigneten Objekt in opportune Bahnen lenkt? Oder wenn man einfach süße Mordpläne für den Geografielehrer schmieden möchte? Die mit enormem Gestaltungswillen angelegten geschwungenen Wege lenken jeden Gedanken hin zum Zentrum, zum Rathaus der Vernunft, zum Fernsehprogramm und nicht weg von dort in Richtung Wellen, in Richtung Bodensatz, in Richtung Gefahr, Schlamm und Auferstehung.

Es gibt kein unverbautes Gebiet, zumindest keines, das einfach vergessen wurde. Natürlich gibt es unverbautes Gebiet, dort sind dann Wanderwege. Selbst erforschen kann man nur noch wenig. Dazu, das eigene Selbst zu erforschen, lädt keine nicht sich selbst rühmende Landschaft ein.

Als Kind war ich auch auf dem Land und dort war mir sehr fad. Zumindest, wenn ich den ganzen Tag mit meinen Eltern in einem Weingarten war. Wenn ich abends die Milch vom Bauern holen konnte, war mir nicht fad, denn außer den Kühen gab es den Sohn des Bauern, den ich später zu heiraten gedachte. An ihn denke ich heute nicht mehr, genausowenig wie an all den Kummer, den ich in die ungepflegten Landschaften ausgespien habe. Und an die Fadesse der Kindheitssommer nur dann, wenn mich das Kind quält: "Mamma, wann gehen wir endlich?" So war ich auch und noch viel ärger. Aber ich erinnere mich manchmal ungefragt an die alten Brunnen, an die Wege, die ich in meinem kindlichen Detektivsein absuchen musste, um Spuren der Verbrecher zu finden. Manchmal musste ich selbst Zweige anknicken, um sie später als Indiz auf meinen Verfolgungsjagden aufzunehmen. Ich trug eine kleine Taschenlampe bei mir und eine winzige Geldbörse in Form eines Marienkäfers, in der war alles drin, was ich brauchte, in Wirklichkeit also nichts, denn den Inhalt erfand ich, die Form war vorhanden.

Manchmal beneide ich heute meine Freundinnen, die für ihre Kinder immer ein Programm entwickeln können oder einfach nur auf einen der von Spielpädagogen entworfenen und in ausreichender Menge vorhandenen Spielplätze gehen. In Italien, vor allem im Süden, gibt es keine Kinderspielplätze, sieht man von ein paar kaputten Schaukeln und rostigen Ringelspielen ab. Aber es gibt noch ein paar Gstätten.
Und abgesehen davon, dass es auch für meine Kinder nicht schlecht ist, wenn sie ihre imaginären Feinde nicht nur im Computer bekämpfen, sondern auch mit Schilfrohren da draußen, selbst wenn mir das manchmal komisch vorkommt, tut es mir gut. Mein Blick wird nicht auf die bereits von jemand anders vorgenommene Gestaltung gelenkt, meine durchs Gestrüpp streifende Seele findet hier ausreichend Nahrung.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen