Dienstag, 24. April 2012

Wer ich bin


Ich stehe auf dem Dach und hänge die Wäsche auf, bereits den dritten Wäscheständer, endlich Sonnenschein, endlich Sonntag. Die Jungs spielen hinter dem Haus mit dem neuen Fußball. Zwei kleine Nachbarkinder kommen wie düsengesteuert angerannt, ebenfalls einen Fußball unter dem Arm. Dahinter die Mutter des einen, gemeinsam mit dem Engel: "Giuseppe, ich sag's dir, schrei nicht und keine Schimpfwörter, das mag ihre Mutter nicht." Das bin ich, ihre Mutter, und ich mag keine Schimpfwörter. Woher weiß sie das? Sie sehen mich. Der Engel winkt mir. Die Mutter ruft:"Jetzt trocknet es endlich!" "Ja", sage ich. "Jetzt waschen wir eine Waschmaschine nach der anderen!" "Ich habe heute schon vier gewaschen!" ruft sie zurück und verschwindet im Off. Ich bin so blöd, mir zu überlegen, wann sie aufgestanden ist, um um halb drei Uhr nachmittags bereits vier Waschmaschinen gewaschen und deren Inhalt zum Trocknen aufgehängt zu haben, wenn man berechnet, dass es Sonntag ist und sie bei ihrer Mutter zum Mittagessen war und dass die Summe aller Winkel in einem Dreieck 180 Grad ist.
(Unterm Strich kommt raus, dass die anderen Frauen fleißiger sind als ich, Schimpfwörter erdulden und nicht nur heimlich selbst benutzen, so wie ich, ihre Kinder mit dem Auto in die Schule bringen und nicht wie ich eine halbe Stunde schlecht gelaunt auf den Schulbus warten).
Unter dem Dach findet nun folgender Dialog statt:
Der Rallyefahrer sagt zum Engel:
"Marilena lässt dich schön  grüßen!"
"Wer ist Marilena?"
"Eine aus meiner Klasse."
"Kenn ich nicht."
"Sie war auf der Hochzeit deiner Schwester."
Spätestens hier möchte ich hinunterrufen: "Das ist die, die sich Socken in den BH steckt!", aber ich habe gerade Unterhosen von Jugendlichen in der Hand und möchte möglichst teilnahmslos wirken. Außerdem bin ich im Off und ich finde, ich sollte das Gespräch nicht hören. Der Rallyefahrer gibt nicht auf, Marilena hätte etwas gesagt, das, wie ich fürchte, mit: "Was ist das für ein geiler Typ!" zu übersetzen ist.
Ich denke, dass Marilena das nur findet, weil sie noch nie mit dem Engel gesprochen hat und daher nicht weiß, dass er stottert UND einen S-Fehler hat, wenn er mehr als "Ciao, come stai?" zu sagen hat. Wobei - wenn ich denke, wen ICH in diesem Alter alles geil gefunden habe, da waren S-Fehler noch vornehm.
Der Engel läuft beflügelt nach Hause.
Ich gehe ins sogenannte Medienzimmer, wo ich meinen Ehemann mit zerrauftem Haar vor dem Fernseher finde und erzähle im Flüsterton, was ich eben erlebt habe. Nicht das von den Waschmaschinen und von Marilena, sondern das von den Schimpfwörtern. Er lacht. Woher weiß die das, frage ich ihn. Wir nehmen an, dass das Kind, als es den Satz  des Nachbarkindes "Mamma, geh mir nicht auf die Eier!" gehört hat, neidvoll gesagt hat, dass es solche Sätze nicht sagen darf, weil seine Mutter das nicht mag. So oder so ähnlich muss es dazu gekommen sein, dass ich mir diesen furchterregenden Ruf des absolut Unsportlichen eingehandelt habe. Und den kann ich auch nicht mehr loswerden.
Das gehört zu den Einsichten, die man als erwachsener Mensch haben muss: Wie einen die anderen sehen, kann man nur sehr schwer beeinflussen. Man kann sein Bestes tun, aber manchmal geht es dennoch in die Hose.
Und das andere ist das mit dem Geil-Finden. Ich frage den Rallyefahrer, wer eigentlich am unlässigsten in seiner Klasse ist und dann ist das komischerweise der Klassenbeste. Ich hätte ihn fragen sollen, ob er viele Schimpfwörter benutzt. Und ich versuche  jeden Nachmittag meinen beiden Heranwachsenden klar zu machen, dass Nichts zu wissen nicht gleichbedeutend mit Geil-Sein ist. Und dass Wissen auch super sein kann, oder zumindest nichts, wofür man sich schämen muss.
Die Tochter meines Freundes, dem, der sich so uralt fühlt, weil er jetzt fünfzig ist, wurde von ihrer Lehrerin gelobt. Zu Hause teilte sie dann mit, wie froh sie war, dass die Mitschüler das nicht gehört haben. Ich geniere mich auch dafür, dass jetzt die ganze Nachbarschaft weiß, dass ich nicht mag, wenn Schimpfwörter benutzt werden.

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