Mittwoch, 18. April 2012

My life is brillant

Ich glaube nicht, dass Marilenas Mutter meinen blog liest, aber wenn, dann wird sie es jetzt erfahren: Marilena sollte heute zum Thema Vergil geprüft werden. Das wurde ihr gestern angekündigt und heute geschah das, was manche Schulkollegen bereits gestern vorausgesehen hatten: Marilena war abwesend. "Ich versteh das nicht, wie sie das mir ihrer Mutter macht.", sagt mein 14-jähriger Sohn mit Ingrimm in der Stimme. "Eine wie du hätte das nie erlaubt."
Eine wie ich.
Ich überlege. Mir fällt die Geschichte von Emilina ein, die das Fieberthermometer raufgeschüttelt hatte und die Aspirintabletten sammelte. Es dauerte ein paar Tage, bis die Mutter den Schwindel der selbstständigen Tochter bemerkte.
Vielleicht hat Marilena ihre Mutter aber auch zur Komplizin gemacht. Wegen so wenig wie Vergil? Am Freitag haben meine Kinder Englischtest. "Vielleicht solltet ihr es wie Marilena machen?" "Schön wär's." sagt der 14-jährige illusionslos. Für die Flucht vor fünf Jahren nicht gelerntem Englisch würde sich das schon lohnen. Ich sage nichts. Später fällt mir etwas ein: "Wer von euch hat uns letztens von psychosomatischen Krankheiten erzählt? Vielleicht hat sie wirklich Bauchweh aus lauter Angst?" Ich ernte zwei Blicke, die sagen: "So naiv kannst auch nur du sein."
Als der Hausübungstag seinem Ende zugeht, versuche ich es noch einmal (nur um diesem Stigma von "Eine wie du" zu entgehen): "Vielleicht ist Marilena wirklich krank?" Keiner beachtet mich.

Eine wie ich hat die Woche unter strömendem Regen begonnen und aus Menschenliebe beschlossen, ihre Kinder mit dem Auto dorthin zu bringen, wo sie der Schulbus abholt. Die Kinder sitzen bereits im Auto, als ich mich auch schon ziemlich nass ins Auto stürze. Der 14-Jährige sagt: "Ich habe vergessen, dir zu sagen, dass der Schulbus im Streik ist." "Du scherzt!" sage ich und will den Motor anlassen, normalerweise kommt jetzt: "Reingefallen!", doch der Ausdruck in seinen Augen hat mich vorgewarnt. Da war Angst zu sehen. "Und das fällt dir jetzt ein?" "Ich sag ja, ich hab's vergessen!" "Du musst uns nur in die Schule bringen." lenkt der Rallyefahrer ein. Ich schaue auf die Uhr, es ist zu früh, der Blick wandert von der Uhr auf meine Hose. So kann ich vor keiner Schule auftreten. Ich habe weder die Zähne geputzt, noch das Haar frisiert. Fuck. Ich lasse die Kinder im Auto sitzen und renne durch den Regen zurück ins Haus. Die sollen dort sitzen bleiben, ihr Beruf ist sowieso Zeit vernichten, den Großteil davon erledigen sie in der Schule. Dabei hab ich mir noch überlegt, ob ich sie in die Schule bringen soll und dann auf die Gemeinde gehen soll, um das Formular für nächstes Jahr Schulbus und Mensa abzugeben, meine beiden Lieblingsthemen schlechthin. Ich ziehe mich um, ich putze die Zähne, ich kämme mich. Als ich ins Auto zurückkomme, sind die Scheiben für die nächste halbe Stunde mit Kinderatem beschlagen. Ich bücke mich, ganz unten ist ein kleiner transparenter Streifen. So fahren wir in die Schule. Ich fühle mich genial, als ich einen anderen Weg nehme, denn der kurze Weg führt durch einen Fluss, der normalerweise  trocken ist, heute sicher nicht. Ein Flussbett mit torrenzialem Charakter, wie MM gern doziert, und auch ich versuche meinen Kindern den Enthusiasmus dafür zu vermitteln, dass dieses Phänomen der Natur sich genau unter ihrer Nase befindet: Immens breite Flussbetten, in denen den Großteil des Jahres gelangweilt die Kieselsteine rumlungern und ein paar Tage im Jahr geht's dann rund und dann ist das ganze ein "Torrente", fälschlich unter Wildbach im Wörterbuch zu finden.
Heute ist einer dieser Tage.
Die Unterführung, die in das Schulviertel des Kindes führt, steht unter Wasser. Vor der Unterführung steht seine Italienischlehrerin in einem schicken Citroen C3 Auto, ich frage mich nur in einem abgelegenen Teil meines Gehirns, ob es einmal einen Lehrerinnenrabatt für dieses Auto gegeben hat, ich habe den Eindruck, alle Lehrerinnen meiner Kinder führen so ein Auto, nur die Italienischprof hat einen Fiat Uno, aber sie ist eine Intellektuelle. Die Lehrerin schaut erschrocken auf die Wassermassen, damit möchte ich jetzt nichts zu tun haben. "Wie nehmen die andere Straße!", rufe ich den Kinder siegessicher entgegen. Die andere Straße ist auch voller Wasser, aber hier sieht es weniger nach tiefem See aus. Ich stürze mich hinein, das Wasser spritzt bis über das Autodach. Ich bekomme Angst, ich will das Kind nicht auf dieser Schulinsel lassen, die beiden überschwemmten Straßen sind die beiden einzigen Zufahrten. Ich nähere mich der Schule, ich sehe immer noch nicht so viel aus dem Auto, aber für die beiden Autos, denen ich auf der einspurigen Straße ausweichen muss, reicht es. Ich parke. Der Regen ist leichter geworden. Das Kind springt aus dem Auto, ich zerre es unter den Regenschirm. Wasser strömt die Straße hinunter. Während ich immer noch überlege, ob es gut ist, das Kind hier zu lassen und ich mir denke, schlimmstenfalls hole ich es am Nachmittag mit Gummistiefeln ab und wie schön es wäre, wenn der Schulbus durch diese Pfützen brausen würde, sagt das Kind: "Ich habe nasse Füße!" Etwas sechs Sekunden sind vergangen, seit wir das Auto verlassen haben. "Musstest du denn durch die Pfützen gehen?" "Mamma!" protestiert das Kind und es hat recht. Ok, du kommst mit mir nach Hause. Wir fahren zurück. Nichts wie raus aus diesem untergehenden Viertel. Ich weiß nun, wie tief der See ist, den ich durchqueren muss und verzweifelt presche ich durch. Andere Autos von der anderen Seite machen das Gleiche. "Du hast ihnen Mut gemacht!" feuert mich der Rallyefahrer enthusiastisch an. Auf der gegenüberliegenden Seeseite steht die Lehrerin mit ihrem C3 und schaut unschlüssig. Ich lasse die Scheibe hinunter und zeige die vermutliche Tiefe des Sees. Die Lehrerin sagt, sie wisse nicht, was sie tun soll. Hinter ihr hat sich eine Schlange an Autos gebildet. Die wissen offensichtlich, was sie tun sollen, denn eine Frau rollt die Augen darüber, was wir da so lange zu quatschen haben. Ich sage: "Diese Dumme!" Morgens um acht bin ich meistens noch nicht vulgär. Ich fahre Richtung Trockenheit, die Lehrerin durch den See. Die beiden Großen werden problemlos in der Schule abgeliefert, es hat zu regnen aufgehört. Danach bleibe ich stehen, um zu telefonieren und um zu sehen ob ich noch einen Mann habe oder bereits Witwe bin. MM ist gut an seinem Arbeitsplatz angekommen, denn geregnet hat es nur über unserer Gemeinde. Allerdings musste er mit dem Auto fahren, denn der Bus streikte. Im nächsten Ort hat er einen mitgenommen, der in der Mensa arbeitet, im übernächsten seinen Freund, den Ingenieur. So ist das, wenn gestreikt wird. Danke, Signor Monti. Jetzt scheint die Sonne. Früher einmal hieß es: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Hier heißt es: Wäre ich in der Absicht, meine Kinder zu spät in die Schule zu bringen, gestartet, hätte ich dieses Unwetter vielleicht zu Hause am Frühstückstisch erlebt.
Ich fahre mit dem Kind nach Hause. Ich lese dem Kind das erste Kapitel eine Geschichte vor, in der ein junger Spartaner, der sich auf die olympischen Spiele vorbereitet, von einem Kollegen arg gelinkt wird. Ich sage: "Ich muss jetzt etwas arbeiten. Ich lese dir später weiter vor." Ich finde die Geschichte echt gut geschrieben, ich kann es kaum erwarten, zu erfahren, wie es weitergeht." Als ich meine Arbeit wieder unterbrechen kann, hat das Kind schon drei Kapitel weitergelesen. Dass das Kind ausgerechnet heute zu einem eigenständigen Leser wird, war nicht vorauszusehen. Ich bin enttäuscht.
Da der Schulbus streikt, muss ich die Kinder auch wieder von der Schule abholen. Mittlerweile heizt die Sonne so arg vom Himmel, dass wir die Fenster aufreißen. Zu Ehren des Kindes, das sonst immer in der Mensa isst, koche ich Penne mit Sugo und geräuchertem Käse. Ich bereite die großen Kinder auf die bevorstehende Mathematikschularbeit vor. Ich telefoniere mit MM, der weiß, dass der Streik deshalb ausgerufen wurde, weil insgesamt 150 Busfahrer in der Region Kalabrien eingespart werden sollen. Ich denke, da bleiben nicht viele übrig. Ich bin ein wenig verzagt und beschließe, nicht mehr in der Gemeindeverwaltung anzurufen und mich zu beschweren, wenn die Kinder wegen eines Umwegs später nach Hause kommen. Vielleicht gibt es schon bald gar keinen Schulbus mehr und ich kann noch mehr Arbeitstage in die Tonne treten. Ich fahre das Kind in die Tanzstunde. Dadurch, dass das Kind sich die Füße nassgemacht hat und ich es mit nach Hause genommen habe, musste ich nur drei statt vier Mal den Hügel hinunter fahren.
Am nächsten Morgen ist unser Schulbusfahrer wieder in Amt und Würden, während MM jetzt mit dem Zug in die Arbeit fährt. So kommt er zu einem ausgedehnten Morgenspaziergang, zum Glück regnet es zur Zeit nicht mehr so.
Falls also Marilenas Mutter meinen blog lesen sollte und es stimmt, dass sie ihre Tochter wegen dem Vergil zu Hause bleiben ließ, soll sie wissen, dass ich sie voll und ganz verstehe. Nur meine Kinder glauben, dass ich eine wie ich bin, und damit tun sie mir einen echten Gefallen.
Und wie wir von unserem Freund in der Gewerkschaft wissen, haben die Busfahrer gewonnen. Morgen fahren sie wieder. Oh yeah!

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