Montag, 2. April 2012

Das Empfinden des Alters, gemessen an den Zahnbehandlungen der Kinder

Ein Freund ruft an, er hat drei Töchter. Er möchte sich beklagen, das ist klar und es geht ihm einiges auf die Eier, das kann man in diesem Fall ruhig so sagen. Er sagt, dass er jetzt fünfzig ist, und dass manches einfach eine Belastung ist, Arztbesuche zum Beispiel, oder die Zahnbehandlungen der Kinder. Obwohl ich im Lauf des Gesprächs manchmal einen Satz einwerfe, in dem ich behaupte, niemand würde ihn besser verstehen als ich, muss ich doch zugeben, dass das mit den Zahnbehandlungen nicht unwidersprochen bleiben darf. Und das, obwohl ich denke, das Gebiss meines Kindes ist an Problemen nicht zu toppen. Da hat mein Freund einfach den falschen Zahnarzt und ziemlich sicher am falschen Ort.

Das Kind und ich beben vor Freude, wenn wir einmal im Monat zu Dottoressa Francesca fahren dürfen. Sie ist von einem sachlichen Optimismus erfüllt und behauptet, dass wenn diese Zähne erst einmal alle rausgekommen seien, sie sie gerade richten würde. Ich habe mit ihr ein finanzielles Abkommen, das an die Abzahlung unseres Hauses heranreicht. Obwohl ich die Entscheidung, genau diese Klinik zu besuchen, im Zweifel, es vielleicht billiger zu bekommen, getroffen habe, habe ich sie bis jetzt noch nicht bereut und die Vorstellung, dass ich auch einmal fünfzig werde und ich dann immer noch mit dem Kind zum Zahnarzt fahren werde, obwohl das Kind dann schon jugendlich sein wird, bestärkt mich. Aus verschiedenen Gründen:

das Kind freut sich immer, in die Klinik zu fahren. 

die Klinik ist am schönsten Ort des Mittelmeers.

Dottoressa Francesca ordiniert mit Blick auf eine Insel.

es ist immer schönes Wetter, wenn wir dorthin fahren, komisch, nicht?

Während der Fahrt muss ich immer an einen Schulfreund von mir denken, immer.
Das liegt daran, dass der Mann auf seinem facebook account sehr oft originelle Fotos veröffentlicht und ich ihm auch eines schicken möchte. Ich fahre nämlich immer an einer Tankstelle mit dem Namen TOTAL ERG vorbei, und ich möchte das Schild fotografieren und es ihm schicken, versehen mit der Frage, ob es nicht eigentlich TOTAL ARG heißen müsste. Ich hoffe, das ist originell genug.

Dann denke ich an Musik und versuche im Radio den entscheidenden Hinweis für den Gedanken des Tages zu bekommen. Da schläft das Kind meistens schon. Davor singt es. Da das Kind nun selbsterfundene Texte auf italienisch singt, kann ich nicht mehr so leicht wegdriften und bewaffne mich daher mit CDs zum Gegenangriff. Viele Wochen lang haben wir die Bee Gees gehört. Als ich jung war, ist mir nie aufgefallen, was für ein Kompliment es ist, zu sagen: uh, you're a holiday....Letztens haben wir uns allerdings durch die elektronischen Rhythmen einer CD von einer Gruppe namens Air gekämpft und wurden kurz vor Ankunft in der Klinik mit dem Lied "You make it easy...to let the past be done..." belohnt. Und während ich über the past und done nachdenke und in welchem Zusammenhang das mit den Schulfreunden steht, versäume ich fast die Abfahrt von der Superstrada und schleife mich schnell noch ein. Alt fühle ich mich dabei nicht. 

Übrigens habe ich das letzte Mal einen Mann auf dem Parkplatz gesehen, der mir irgendwie komisch vorkam. Ich habe dann verstanden, warum: Er hatte ein Buch in der Hand und zwar ein ziemlich dickes. Was war denn mit dem los? Hier liest doch keiner.

Dottoressa Francesca ist eine der schönsten über vierzigjährigen Frauen, die ich live gesehen habe und das liegt glaub ich auch daran, dass sie sich vor allem für die Zähne ihrer kleinen Patienten interessiert und weniger für ihre Frisur, die allerdings auch makellos ist. Vor allem ihre Augenbrauen sind spektakulär. Das würde meinem Freund vielleicht dabei helfen, das Gewicht seines Alters zu vergessen.

Vor dem Besuch gehen wir zum Bankomat und nach dem Besuch haben wir kein Geld mehr. Obwohl die Mathematiklehrerin des Kindes behauptet, sein logisches Denken ließe zu wünschen übrig, sagt das Kind: "Entschuldige Mamma, kann ich mal was fragen? Schon allein für eine Kontrolle musst du so viel bezahlen?" Das, Maestra Rosetta, hätten sie sich wohl nicht erwartet, was? Ich sage: "Kind, das ist jetzt aber ein guter Gedanke. Nein, für eine Kontrolle bezahle ich nicht so viel, aber wenn du dann deine nächste Zahnspange bekommst, habe ich schon einiges im Voraus bezahlt." Das versteht das Kind und sicher weiß es das nächste Mal auch besser, wieviel eine Schneiderin an sieben Hochzeitskleidern verdient, wenn sie ein Hochzeitskleid für 1700 Euro verkauft und für den Stoff und die anderen Zutaten 14 Euro 30 ausgibt. Bei der Angabe dieses Problems hat Maestra Rosetta wahrscheinlich gerade eine Wut auf die Schneiderin gehabt.

Mir geht auch einiges auf die Eier, aber die Zahnbehandlung des Kindes gehört zu den erfreulichen Dingen in meinem Leben. Nicht zuletzt, weil uns auf der Reise die Vergangenheit und die damit immer verbundene, sich wohlig anfühlende Möglichkeit auf Zukunft begleitet. Der Bastei-Lübbe Verlag hat einen Wettbewerb ausgeschrieben, in dessen Texten sich Menschen treffen sollen, die sich seit zehn Jahren nicht gesehen haben. Man soll schreiben, was dann passiert, sechs Seiten. Ich könnte das nicht. Ich habe so viele Menschen zehn Jahre lang nicht gesehen und es ist, als hätte ich sie gestern das letzte Mal gesehen. Interessant wird es erst beim ca. Dreißig-Jahre-nicht-gesehen-haben. Denn wie bei Rilke nächtigt auch in meinem wilden Herzen obdachlos die Unvergänglichkeit.

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