Samstag, 29. Mai 2010

Iguacu

Die dattilografische Familie war nicht immer nur in Italien. Einmal waren wir bei den Wasserfällen von Iguacu im Süden Brasiliens im Länderdreieck Brasilien/Paraguay/Argentinien. Als wir dort waren, war ich von der Angst gepeinigt, meine Kinder könnten ins Wasser fallen und in den gigantischen Wassermassen verschwinden. Jede einzelne Sekunde unseres Aufenthalts hatte ich Angst. Wenn wir weit genug vom Wasser waren, befürchtete ich, die Kinder könnten aus dem offenen Stockautobus stürzen, wenn wir in irgendwelchen Schlangen anstanden, war ich davon überzeugt, die Kinder gingen verloren oder würden entführt. Selbst etwas von den größten Wasserfällen der Erde entfernt, in der kleinen Stadt Foz do Iguacu hatte ich keinen Moment Frieden, denn auch hier drohten mannigfaltige Gefahren, Kinder, die sich im Dunkel verlieren, Kinder, die in den Löchern im unregelmäßigen Pflaster straucheln und hinfallen, Kinder, die im schlimmsten Fall in diesen Löchern für immer verschwinden.
MM hat während meiner mehrtägigen Panikattacke tausende wunderbare Photos gemacht, von denen ich auf keinem einzigen zu sehen bin, die Angst scheint mich weggezaubert zu haben. Annulliert, annihiliert, falls es dieses Wort gibt.

Im Rückblick betrachtet, handelt es sich jedoch um einige der schönsten Tage meines Lebens.

Ich denke nicht: ach, hätte ich mich doch nicht so gefürchtet, ich kann im Nachhinein diese Gefühle wegdenken, sie wie in computergesteuerter Postproduktion bereinigen. Ich denke nicht, ich hätte diese Reise mehr genießen sollen, im Hinterherdenken genieße ich sie. Meine Ängste von damals sind reale Ängste und wertvolle Ängste. Heute wache ich in einem nassgeschwitzten Pyjama auf und habe Ängste wegen meiner Arbeit. Komischerweise habe ich keinen nassgeschwitzten Pyjama, weil ich den Rest meines Lebens Schulden wegen dem Haus haben werde. Ich möchte das Haus umarmen mit langen, sehr langen Armen. Ich möchte den Garten umarmen.

Jeden Tag versuche ich, meine Arbeit zu lieben. Jeden Tag passiert etwas, das mir wie ein Knüppel in die Kniekehlen schlägt und all meine kunstfertig gepflegte kleine Liebe springt davon. Weil ich nicht weiß, wie ich ich sein kann.

Ich wünsche mich ins rosa Zimmer zurück, mit schrecklichen Dingen, die ich dort schreiben muss, mit vier Maurern und drei Elektrikern und zwei Installateuren, die mich am Arbeiten hindern wollen. Lärm ist vergleichsweise harmlos gegen den Druck, unter dem wir bei unserer Arbeit stehen und wir sind wohlgemerkt kein Chirurgenteam. Der Druck hat zum Teil mit Ökonomie und zum anderen Teil mit Psychopathologie zu tun und es ist nicht weiter erstaunlich, dass viele in meinem Berufsbereich nach einiger Zeit Masseure werden wollen, Krankenschwestern oder Altenpfleger.

Während ich in Italien jeden Einkauf als Zeit- und Nervenverschwendung empfinde, gebärde ich mich in einer zweistündigen Phase vor Arbeitsbeginn als Impulskäuferin, kaufe die teuersten Schuhe meines Lebens (obwohl doch Frau Obermaurer mein Gehalt bekommen sollte), denke über den Begriff "feel good" nach und will lieber eine Massage als einen Liebhaber. Das bin nicht ich.

Aber heute hat jemand mit mir gemeinsam einen Kampf gefochten, den wir gewonnen haben und der mich nur an ein Sprichwort denken läßt, das sicher nicht zuvorderst in meinem Wortschatz steht: den wahren Freund erkennt man in der Not. Wow!

Hier beginnen die Vögel beeits wieder zu zwitschern und ich preise die Erfindung von Oropax. (Oder heißt es Ohropax?) Ich preise die Tatsache, in meinem eigenen Bett zu schlafen, auch wenn es sozusagen das Zweitbett ist. Ich preise das Wochenende und den morgigen/heutigen Tag, der mir die Aufnahme eines chinesischen Satzes und hopefully ein Treffen mit meinem ehemaligen Freund bescheren wird.

Ich denke, ich bin eine Schnecke, die ihr Haus auf dem Rücken mit sich führt, eine Schnecke, die eigentlich auf einem Hügel hoch über dem Meer lebt und sich in die Ebene verirrt hat.
Und ich denke an den gehenden Mann und ich komme wieder auf die Frage zurück, die mir meine welterfahrenen Freunde gestellt haben: bist du sicher, dass nicht nur du ihn siehst, hahahaha? Natürlich sehe nicht nur ich ihn, aber vielleicht sehe ich ihn deshalb so oft und so fest, weil ein Teil von ihm ich bin, weil wir beide immer auf dieser SS 18 auf und ab gehen und nachts (vermutlich) in einem Zelt schlafen.

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