Mittwoch, 14. Dezember 2016

wouldn't it be good to be in your shoes

Urgut geht es der Datti nicht, das kann man nicht behaupten. Nach vielen Arbeitstagen in der großen Stadt ist sie heimgekehrt, um festzustellen, dass sich der große Sohn zu einem kleinen Arschloch entwickelt hat (wofür er vielleicht nichts kann und wovon man sagt, dass es normal sei). Dass sie ihr Ehemann wie ein viertes Kind behandelt (sie weiß nichts, sie kann nichts, sie tut nichts), dass der Fußballer unter dem Pantoffel von Giovanna aus Napoli steht (und nicht unter dem mütterlichen, ha!) und dass das Kind suspekterweise sehr umgänglich ist, was auf die Vorbereitung des richtig großen Dramas schließen lässt. Die eigene Mutter geht der Datti am wenigsten auf die Nerven, verkehrte Welt.

Sie ist mit ihren Gedanken meistens woanders und fürchtet nichts mehr, als dass jetzt Weihnachten kommt. Der Plastikchristbaum steht schon seit Maria Empfängnis, das Kind hat ihn geschmückt, so derartig in time war diese Familie noch nie, auch dies lässt auf einige Disfunktionen schließen.

Der zweite Zahn innerhalb von vier Wochen ist im Mund der Datti ausgebrochen. Das Knie kracht und grammelt, die Wechseljahre lassen auch auf sich warten, die Haare sind ungewaschen. Die Datti würde sich in die Mülltonne schmeißen, wenn es dort besser riechen würde.

Und jetzt kommt eben Weihnachten. Ich will nicht. Defintiv nicht. Ich möchte niemanden beschenken. Ich möchte kein Fest des Friedens. Heute war ich auf einem Begräbnis, dort haben entfesselte Frauen Mitte vierzig davon gesungen, dass Jesus sie in seine Arme nehmen soll und dass sie mit ihm in einem Boot sitzen. Nehmt mich mit! Mich soll er auch umarmen! Der letzte Hippie aller Zeiten. Sollte ich doch seiner Geburt gedenken? Und meinem großen Sohn verzeihen, dass er mich eine Rechnung für Schnellfahren mit unserem Auto hat zahlen lassen? Ich meine, immerhin hat er die 300 Euro für den vorigen Schaden aus eigener Tasche bezahlt. Die Frage ist: soll ich ein guter Mensch werden?

Ich bin nämlich auf der Suche nach einer neuen Identität, denn meine alte ist gänzlich ungeeignet, Weihnachten ohne Zank und Hader zu überstehen. Die meisten Scheidungen finden nach den Ferien statt und das möchte ich für mich tunlichst vermeiden.

Deshalb fällt mir der Song von Nick Kershaw aus dem Jahr 1985 ein: The grass is always greener irgendwo anders.

Jede meiner Freundin scheint ein erfreulicheres Leben zu haben, als ich selbst. Mit Familie, ohne Familie, mit kleiner Familie, mit großer Familie, alle, alle, keine ausgenommen. Mit super Ehemann, ohne Ehmann, mit schwierigem Ehemann. Wie haben sie das gemacht und wann bin ich auf der Strecke geblieben?

Als etwa 8-jähriges Mädchen fand ich ein etwa 18-jähriges Mädchen im Wartesaal des Arztes so interessant, dass ich versucht habe, sie zu imitieren. Sie hatte volle Lippen und ich erinnere mich, dass ich tagelang die Lippen geschürzt habe, bis mir jeder Muskel im Gesicht weh tat. Damit hätte ich den Mangel an langem Haar wettmachen können. Ich muss also jemand imitieren. Damit lenke ich mich ab und dann tun mir die Muskeln weh.

Was also steht mir für die Weihnachtsferien zur Verfügung?
Variante 1: ich bleibe, wie ich bin. Grantig, unzufrieden, zerstreut.
Vorstellung: Langweilig.

Variante 2: ich werde ein guter Mensch. Mutter Teresa? Ach nein. Aber doch besser als jetzt. Gut mit oder ohne Religion? Das könnte bedeuten: Simone Weil lesen, Edith Stein lesen. Sicher lohnenswert. Möglichst keinen Kontakt mit niemandem. Nach den Weihnachtsferien: Illuminiert. Gute Möglichkeit. Schwer durchzuführen. Sie werden mich nicht so viel lesen lassen.
Gut ohne Religion? Mit dem Vorhaben, 10 Tage (hoffentlich ist es nicht noch länger, habe Angst in den Kalender zu schauen), einfach nett zu sein. Jeden Tag aufs Neue.
Vorstellung: Maximale Herausforderung.

Variante 3: ich werde zu einer wandelnden Zeitbombe. Ich sag es allen ins Gesicht: Leckt mich doch. Leckt mich alle mit euren Scheißweihnachten, ihr Heuchler, ihr verlogenen. Und die ersten, die ich attackiere sind die Frauen Mitte vierzig, die mit dem Jesus in einem Boot sitzen. Denen zieh ich gleich mal den Stöpsel aus ihrem Schlauchboot. Und dann lege ich mir zurecht, wen ich noch aller untergehen lasse. Ich bin ja völlig unverdächtig, könnte daher effizient tabula rasa machen. Meine Familie lasse ich peinlich berührt nach meinen Wahnsinnstaten zurück.
Vorstellung: Unrealistisch. Bin ich viel zu müde dazu.

Variante 4: ich werde aktiv. Ich entwerfe einen Plan, einen anderen als den, als Killerin durch die Welt zu ziehen. Ich repariere die Tür. Ich repariere alle Türen. Ich häkle die Hauben, für die ich letztes Jahr zu Weihnachten die Wolle gekauft habe. Um dann festzustellen, dass ich nicht mehr häkeln kann. (Da fällt mir ein, dass ich etwas zu tun habe, was vor Weihnachten fertig sein muss. Ich glaube, ich bin der einzige Mensch, der so verzweifelt ist, dass er Blogeinträge vor Weihnachten schreibt, statt einfach einzukaufen.) Ich räume mein Büro auf. Ich räume den Keller, die Küche, die Kinderzimmer auf. Ich putze die Bäder. Ich staube alle DVDs ab. Ich hole die Zwetschken aus dem Gefrierfach und mache Marmelade.
Vorstellung: Lächerlich. Mach ich nie.

Variante 5: ich werde sozial. Ich schreibe Freunden und Verwandten. Ich gehe Nachbarn besuchen. Ich lerne die Eltern von Giovanna kennen.
Vorstellung: Schaurig. Ich möchte die Decke über den Kopf ziehen. Nein, nicht die Decke. Alle Decken dieser Welt. Sie mögen mich unter sich begraben.

Variante 6: ich werde zur Schriftstellerin. Gerne wäre ich heiter, aber wie soll das gehen? Doch, mir fällt etwas ein: meine Oma. Meine Oma. Genau. Ohne meine Oma würde ich mich in vor Liebe triefenden Romanen versuchen, denn von der Liebe verstehe ich was und das Triefen wird mir nicht schwer fallen. Mit meiner Oma, der größten Heftlleserin aller Zeiten, wird es mir gelingen, Heiterkeit, Luft, Licht, Freude in das Triefen zu bringen. Meine Oma ist 1978 gestorben, ich dachte immer, sie sei im Bett einfach eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht, aber meine Mutter hat mir erzählt, sie sei am Fenster gesessen (dort wo die Zeitungen lagen) und wäre dort - eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Was für ein schöner Tod. Alle von meiner Mutter und meinem Bruder für mich mit pädagogischem Blick ausgesuchten Kinderbücher, all die Abstinenz von den Comix, die gänzliche Asterixfreie Kindheit, alles wurde zunichte gemacht, als ich das erste Mal Frauenarzt Dr. Harald Bosse liebt seine Assistentin Heidrun las. Dr. Harald Bosse hatte eine ebenso reiche wie gefühlskalte Frau und es war nicht weiter verwunderlich, dass er sich in seine hübsche und hingebungsfähige Assistentin verliebte. Hingebunsgsfähig. Soll ich das als Variante 7 versuchen? Nein, ich bleibe bei Variante 6. Oma wird mich inspirieren. Ich werde versuchen, in Omas shoes zu steigen. Even if it was for just one day. Leider weiß ich nicht, wie meine Oma Weihnachten verbrachte. Denn meine Oma lebte an einem Ort, an dem man damals im Winter nicht hinfahren wollte. Meine Oma hatte 8 Kinder und vier waren katholisch und vier evangelisch. Ich glaube, die Religion war der Oma ziemlich wurscht. Sie selbst war evangelisch. Auf jeden Fall war die Oma lustig. Urlustig. Werde ich alt? Ja, schon, aber so alt, dass mir meine Oma als Vorbild gelten muss, damit ich zu Weihnachten meine Familie ertragen kann? Der Plan also lautet: im Zweifelsfall an die schweren Schuhe von der Oma denken, oder an die ausgelatschten Hauspatschen. Im schlimmsten Fall solche am Markt kaufen. Hoffen, dass der schlimmste Fall nicht eintritt, denn die Hauspatschen waren alles andere als sexy. Schauen, dass man jeden Tag ein bisschen an der heutigen Variante von Dr. Harald Bosse arbeiten kann, heiter, leicht, nicht gehäkelt, sondern gesponnen, um der Oma eine Freude zu machen. Niemanden mehr beneiden. Es stimmt schon, alle meine Freundinnen haben es besser als ich. Aber meine Oma als Inspiration habe nur ich. Das wird ein Spaß mit Dr. Harry Bosse in der Krippe. Oma, here we go - in your shoes.




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