Dienstag, 9. Oktober 2018

Don't be old

In der großen Stadt begleite ich meine Mutter zur Friseurin. Man muss dazu nicht einmal die Straße überqueren und meine Mutter rast mit ihrem Rollator den Gehsteig entlang. Ich überlasse sie eine halbe Stunde der Obhut der sich enthusiastisch gebärdenden Frau Karin und fühle mich, als wären meine Kinder mit der Babysitterin unterwegs. Nur schreibe ich nicht schnell einen Roman, sondern kaufe im Supermarkt Fertiggerichte für meine Mutter ein. Ich bin dennoch glücklich.
Die Friseurin hat meiner Mutter einen Kurzhaarschnitt verpasst, mit dem sie sich jugendlich fühlt. "Vorher habe ich ja ausgesehen wie eine Hundertjährige!" sagt sie empört. Sie wird in diesem Jahr 88. Hundertjährige sind für meine Mutter wohl das, was für mich als Jugendliche Erwachsene waren.

Sie will noch nicht gleich nach Hause gehen und wir gehen eine Runde um den Block. Sie erzählt mir, wie ihre Füße schmerzen. Sie sagt: "Da gibt es so viele kleine Nerven und Sehnen, ich spüre sie alle." Sie hat diesen Satz schon so oft gesagt und sie sagt ihn jedesmal, als wäre es eine Erkenntnis dieses präzisen Moments. Ich nehme mir vor, nie wieder über meine eigenen Schmerzen zu sprechen. Obwohl ich in diesem Augenblick alle Sehnen und Nerven meiner Füße spüre. Und es gerne jemandem erzählen würde.

Zu Hause angekommen trage ich den Rollator die 6 Stufen hinauf, die meine Mutter von der Welt trennen. Sie zieht sich am Treppengeländer hoch. Ich möchte die Türe schließen, aber sie verbietet es mir. Sie möchte, so lange ich da bin, versuchen, alleine die Treppe hinunter zu gehen. Sie sagt, es gäbe eine Krankheit, die Schwellenangst hieße, und deshalb könne sie die Treppe nicht hinunter gehen. Sie hätte Angst, zu fallen. Ich sage, ihre Angst sei nicht pathologisch. Die Möglichkeit, dass meine 87- jährige Mutter, die an einer Hüfte operiert ist und an der anderen leider nicht, die Treppe hinunter fällt, ist durchaus wahrscheinlich. Aber sie scheint die Psychologie entdeckt zu haben.

Sie geht die Treppe hinunter, bis zum Postkasten. Ich sage ihr, wo sie sich festhalten soll. Sie steht vor dem Briefkasten, dem eigentlichen Zielort. Ihr Postfach ist das oberste. Sie wird es nicht erreichen. Sie wirkt wie ein kleines Mädchen, das in ein Vogelnest schauen möchte. Sie zieht sich wieder am Geländer hoch. Gleichzeitig kommt der Lift von oben. Die Nachbarin steigt aus. Sie ist über 90.

Sie kann alleine gehen und sie geht jeden Tag einkaufen. Meine Mutter und die Nachbarin freuen sich, einander zu sehen. Sie denken jeden Tag aneinander. Sie schauen, ob das Licht in der Wohnung der anderen eingeschaltet ist.

Die Nachbarin hat eine tolle Frisur, sie hat ihre weißen Haare bis zum Kinn glatt geschnitten, dadurch wirkt sie eleganter als meine Mutter mit ihrer Kurzhaarfrisur. Und: Sie hat noch echte Zähne. Nicht mehr viele und in keinem guten Zustand. Aber: There they are.

Die Damen kommen sofort ans Eingemachte. Früher waren die Winter kälter. Der Beitrag meiner Mutter lautet: Sie ist an einem Freitag, dem 19. Dezember geboren worden und am Sonntag wurde sie getauft. Bei der Fahrt zur Kirche kippte der Schlitten um und meine Mutter fiel in den Schnee. In der Kirche, während der Taufe schrie sie. Kein Wunder, schließlich hatte sie Schnee im Wickelpolster. Meine Mutter ist sichtlich ergriffen wegen dem armen Baby, von dem man ihr erzählt hatte.
Der Beitrag der Nachbarin lautet: Ihr Vater war gestorben, als sie zwei Jahre alt war. Sie kann sich nicht mehr an ihren Vater erinnern, aber sie kann sich an sein Begräbnis erinnern. Sie erinnert sich, dass man sie auf den warmen Herd setzte. Es muss sehr kalt gewesen sein.

Die Geschichte meiner Mutter und jene der Nachbarin weisen neben der Käte im Winter erstaunliche Parallelen auf.  Meine Mutter war das letzte Kind von 12 Kindern. Ihr Vater war Witwer und hatte bereits ein Kind. Die Nachbarin war das letzte von 8 Kindern. Ihr Vater war Witwer und hatte bereits drei Kinder. Beide Väter waren 13 Jahre älter als die Mütter.

Aber die beiden Nachbarinnen bestehen nur auf dem einen Thema: Meine Mutter war aus dem Schlitten gefallen und die Nachbarin hat keine Erinnerungen an ihren Vater, außer jener, bei seinem Begräbnsi auf den Ofen gesetzt worden zu sein. Die Erzählung meiner Mutter ist wie ein Chor, der immer mehr anschwillt, eine Anklage an all die unfähigen Leute, die sie, 2-tägiges Baby, in den Schnee warfen UND sich anschließend ereiferten, dass sie bei der Taufe geweint hätte. Die Erzählung der Nachbarin ist ein stilles Wundern über die Tatsache, dass sie nichts von ihrem Vater erinnert, nur die Tatsache, auf einem Ofen gesessen zu sein.

Es muss sehr kalt gewesen sein.

Sie kommen ein drittes Mal darauf zurück. Meine Mutter lächelt jugendlich mit ihren dritten Zähnen. Aber sie ist stinksauer auf die Hebamme, die damals bereits 70-jährig, über meine Mutter gesagt hatte: Die lebt eh nicht lang. Zum Glück hat mir nie jemand Prophezeiungen berichtet. Die Nachbarin hät sich kichernd die Hand vor den Mund, sie weiß, dass ihre Zähne, die sie seit, naja, 86 Jahren hat, nicht schön anzusehen sind. Und sie spricht über den Ofen, auf den man sie am Tag des Begräbnisses ihres Vaters gesetzt hatte.

Ich finde die Nachbarin jugendlicher als meine Mutter. Sie geht alleine einkaufen, sie hat noch Zähne.

Meine Mutter beginnt eine lange Geschichte zu erzählen, deren Protagonist ihr Vater ist (ein Mannn, dessen Frau 13 Jahre jünger war, aber 18 Jahre vor ihm starb, was ich persönlich eine Frechheit finde),  ein Pfeifenraucher, dem man zu Weihnachten Tabak schickte, bis in sein 88. Lebensjahr, in dem er beschloss, keinen Tabak zu brauchen. Nein, er hörte nicht zu rauchen auf, er verstarb. Eh klar. Meine Mutter, im 88. Lebensjahr, möchte nun auch keine Weihnachtsgeschenke mehr. Aber meine Mutter raucht keine Pfeife.

Die Nachbarin scheint die Geschichte nur einerseits zu verstehen. "Er hat gespürt, dass er sterben wird", sagt sie mit ehrlicher Bewunderung. Sie versteht nicht, dass meine Mutter damit sagen wolte, dass auch sie, im 88. Lebensjahr, sterben wird. MUSS.

Meine Mutter ist beleidigt. Ich spüre es. Man muss sich verabschieden.
Die Nachbarin sagt: Ich hätte Sie nicht erkannt. Du schaust so jung aus. Wie alt bist Du?
Ich muss nachdenken. 54.
Ich bin mit ihrem Sohn in die Parallelklasse gegangen. Ihre Tochter war meine kleine Freundin. Ihr großer Sohn ist der beste Freund meines großen Bruders. Sie sagt: Du schaust jung aus. Das ist, weil es dir gut geht.

Meine kleine Freundin, die Tochter der Nachbarin, ist ein Jahr jünger als ich. Sie ist 53. Ich sage: Damals war sie jünger als ich. Aber heute sind wir alle gleich alt. Ja, sagt sie. Wir sind alle jung.

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