Freitag, 1. April 2016

Wie ich mich im Zaum halte

Meistens habe ich mich als tickende Zeitbombe gefühlt, bereit, loszugehen, wenn das Mass an Provokation voll war. Heute würde ich mich als Selbstmordkommando geschmacklos fühlen. Nachdem ich mehrere Jahre lang nicht anders konnte, als in auswegslosen Situationen mit der flachen Hand auf den Tisch zu schlagen, finde ich auch diese Reaktion auf Missstände nicht mehr angemessen.
Ich bin müde.
Und gleichzeitig bin ich immer noch ein Fass, das permanent vom Überlaufen bedroht ist.
Meine Libido will die Dauben sprengen und auch meine Wut ist gefährlich.

Während ich als jugendliches Pulverfass intellektuell Peace and Love vertreten habe, bin ich als Frau im besten Alter unauffällig und unterschwellig gefährlich, denn mit jedem Tag meines Lebens wächst die Lust, jemandem meine Faust ins Gesicht zu schlagen ins Unermessliche. Ich sehe es vor mir: in Zeitlupe. Ich gebe zu, ich habe viele Boxerfilme gesehen und so wird es sein: meine Faust wird auf irgendjemandes Gesicht aufkleschen und dessen Unterkiefer wird sich verschieben und aus dem Zahnfleisch wird langsam eine bedeutende Menge an Blut schießen. Möglicherweise werden mir die Fingerknöchel weh tun und mein Herz wird heftig klopfen, aber es wird mir gut gehen, ich habe auf diesen Moment gewartet. Ich werde mich verwirklicht haben.
Der andere, mein Opfer, wird auch nicht tot sein, es wird ihm einfach der Schädel weh tun und er wird sich das verdient haben.

In der großen Stadt warte ich nur darauf, dass mich einer anfällt, aus Blödheit oder Verwirrtheit, der wird dann die geballte Wut meiner letzten 50 Jahre abbekommen. Das heißt: Ich habe keine Angst, aber wirklich nicht.

In Italien ist die Gefahr, dass mich jemand physisch bedroht geringer, die diffuse Wut nicht weniger groß. Vielleicht wird in meiner Phantasie nicht einem singulären Feind mit einem einzigen Schlag das Unterkiefer zertrümmert, hier würde ich gerne ein paar kräftige links-und-rechts-Watschen austeilen. In der großen Stadt in Mitteleuropa bieten sich Politiker an, im kleinen mafiösen süditalienischen Zusammenhang kleine mafiöse Kellerratten.

Dies sind meine geheimen großen Ziele: Steigt mir EINMAL auf die Zehen und ich mache euch so klein mit Hut und Feder. Mein Alltag besteht allerdings aus vielerlei kleinen Ärgerlichkeiten und ich möchte meinen Kindern jedoch den Eindruck vermitteln, als hätten sie ein stabiles Elternhaus und nicht eine Mutter, die bei einem auch nur kleinen Auslöser unvermittelt zu Joe Rambo wird. Dieses Gleichgewicht zu erhalten kostet mich viel Kraft, denn in Wirklichkeit bin ich keine stabile Peace and Love Mami, nein, ich BIN Joe Rambo und wehe wenn sie losgelassen.

Nur mein Intellekt kann mich retten und ich versuche es mit Mathematik und Masse.
Statt in die Schule des Kindes zu gehen und

1.) zu protestieren, dass die Musiklehrerin nie da ist
2.) mich aufzuregen, dass die Lehrerin der Klasse, der das Kind aufteilungsweise zugewisen wird, sich nicht durchsetzen und ergo nicht unterrichten kann, weshalb das Kind nun im Auto sitzt und sich den Kopf hält und sagt: "so viel Geschrei"
3.) zum Dirketor zu gehen, um die Mathematiklehrerin, die unlösbaren Probleme mit Prismen und aufgesetzten Pyramiden nicht löst, sondern stattdessen unangekündigt prüft, anzuschwärzen
4.) ebengenannter Mathematiklehrerin eine Psychotherapie ans Herz zu legen, weil sie eine Schularbeit ankündigt und wieder absagt, weil sie sich über etwas aufregt und wir das schon äfter hatten
5.) die Englischlehrerin zu fragen, wieso sie eine Film im Unterricht zeigt, der NICHT in Englisch ist

zähle ich alles an diesem Tag zusammen und das beruhigt mich. Von 1 - 5. Ich habe niemandem eine Ohrfeige gegeben. Ich habe nicht einmal geschrien.

Ich habe vor kurzem einen Film gesehen, in dem ein Mann, der in Afghanistan im Krieg war, unproportional gewalttätig auf einen Angriff reagiert. Eigentlich reagieren die meisten Menschen in Filmen unproportional gewalttätig auf einen Angriff. So wird es auch bei mir sein. Und ich war in keinem Krieg. Zumindest in keinem offiziell anerkannten.

Die andere Seite der Wut ist die Liebe. Ich bin nicht so liebeswütig, wie ich fürchte gewalttätig werden zu können. Schade irgendwie. Aber dennoch unproportional, wenn es um die Liebe geht.

Während bei der Wut zählen hilft, hilft bei der Liebe Masse. Arbeit, Leistung.
Als ich jung war, zählte eben Love and Peace und allesallesalles, nur kein Weichei sein. Heute flehe ich mich an, ein Weichei zu sein. Ich zwinge mich dazu.
Ich sage mir: Alles wird gut, solange du nie zum Telefon greifst und niemandem schreibst, außer höflich. Ich erlege mir Regeln auf.
Die erste lautet: Lies alle Bücher von David Foster Wallace und dann sehen wir weiter.

Das hilft auch ungemein im Falle des Wunsches, jemandem eine in die Goschn haun zu wollen.
Das hätte der David Foster Wallace nicht gemacht. Kraft seines Intellekts hätte er diesen Trieb umgekehrt. Zumindest beschreibt er das in seiner Rede "Das ist Wasser." so. Und ich bewundere ihn dafür.

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