Montag, 6. Juni 2016

Harfenstunden

Die letzten Wochen waren voller Harfenklänge. Was nicht heißt, dass der Himmel voller Geigen hing, was schön gewesen wäre. Irgendwie hat das Kind heuer das dritte Jahr in der Schule Harfe gelernt, auch wenn es uns wenig vorgekommen ist. Dann sind wir draufgekommen, dass er an diversen Aktivitäten zu diesem Instrument nicht teilnimmt, was uns überrascht, aber nicht erfreut hat. Zum Schluss war aber dann alles sehr aufwändig und wir waren dann wieder (fast) froh, dass er uns erspart hat, im Orchester zu spielen und an Konzerten teilzunehmen, die über die letzte Woche hinausgingen. Da war nämlich am Montag das Konzert in der Schule in der Marina, am Dienstag das Konzert in der Schule im Dorf auf dem Hügel, am Mittwoch das Konzert im Theater. Und am Samstag mussten wir in die Provinzhauptstadt in ein Musikgymnasium fahren, wo etwas stattfand, das das Kind uns als "da sind dann richtig große Harfen, auf denen wir spielen können" präsentierte. 3 Tage minutiöser Planung dieses Ausflugs, denn wir haben ja nicht nur ein Kind, sondern drei und nicht nur ein Auto, sondern zwei und man kann das potenzieren und multiplizieren, dann kommt die Anzahl unserer Probleme, nicht nur organisatorischer Natur heraus. Und dann stehen wir vor der Schule, sie liegt im Schatten, ein leichter Wind weht um drei Uhr nachmittags über einen leeren Platz und mit ihm die angenehmen Klänge einer Harfe. Ich bin ungeduldig, die Harfelehrerin ist noch nicht da, die andere Teilnehmerin auch nicht, und ich höre schon die Harfe! Ich betrete das Gebäude und erkläre einer sehr netten Schulwartin wer ich bin. Sie sagt, die Veranstaltung habe um 14 Uhr begonnen. Ich sage komplizenhaft: Ist wohl ein Open day, oder was? Ein Tag der offenen Tür, der für meine Begriffe viel zu spät stattfindet, denn wenn die Schule für sich Werbung machen will - mein Kind ist bereits in einer anderen Schule angemeldet. Nein, es handelt sich um eine Masterclass. Dieser Ausdruck gefällt mir. Jetzt sehe ich sogar ein Plakat: Masterclass mit Gisele Herbert. Das gefällt mir noch viel besser. Das Kind wird von einer französischen Meisterin eine Lektion erhalten, ich frohlocke. Ich werde von der Harfelehrerin des Musikgymnasiums begrüßt und versuche diskret zu sein und vor allem gelassen und sage: "Nein, wir wollen noch nicht eintreten, wir warten auf unsere Professoressa". Ich spähe in den Raum und sehe die riesige Harfe und die gebannt blickenden jungen Damen und bin sehr aufgeregt. Ich laufe zu MM und dem Kind und sage: "Ich habe alles gesehen und es ist alles sehr super." Ich bin zufrieden mit mir, ich bin eine Art Mutter-Journalistin, die für ihren Sohn auch die letzte Hemmschwelle mühelos überspringt. Die andere Teilnehmerin kommt, sie wird ebenfalls von beiden Elternteilen gebracht, in einem Mercedes, samt kleinem Bruder. Dann kommen noch zwei Mädchen mit ihren Müttern und unsere charismatische Prof. Wir treten in die Aula, ich gleich nach der Prof, begrüße mit strahlendem Lächeln die Verantwortliche und nicke freundlich der Maestra zu, die sich nicht aus der Ruhe bringen lässt, trotz dieses plötzlichen Einfalls der kleinen Karawane. Wir nehmen Platz und ich sehe auf der Bühne einen jungen Mann mit abstehendem lockigen Haar, einer Brille und einigen Piercings an der Harfe. Er könnte aus Brasilien stammen und ich glaube, ihn zu kennen. Er zupft hingebunsgvoll und die Meisterin korrigiert auf französisch. Eine junge Übersetzerin steht aufrecht daneben und übersetzt eifrig und sicher. Ich schaue zum Kind: "Ist das der Schüler von der verrückten Harfe-Prof?" Er weiß es nicht. Er blickt ängstlich und will sich seine Angst nicht anmerken lassen. Ich denke auch, na wow, jetzt auf die Bühne? Hat er das gewusst? Er sucht eine Haltung, während die Mädchen kichern und sich an die Prof drängen.

Ich denke daran, wo ich diesen jungen Harfespieler schon gesehen habe. Vor zwei Jahren ist unsere schöne Prof in den Mutterschutz getreten und eine andere Harfelehrerin musste sie vertreten. Das Kind und seine Lieblingskollegin, die mit dem Mercedes, waren sehr besorgt: Und wenn die Neue eine Hexe ist? Die Neue war eine Hexe: schwarz gekleidet, langes Haar, schwarze Fingernägel und schwarzer Lidstrich. Sie hatte sogar einen Hut wie eine Hexe und sie stieg in der Schule aus dem Fenster, um draußen zu rauchen. Das Kind und die Kollegin kicherten. Die Hexe hatte bald ebenfalls eine Vertreterin, keine andere Hexe, eher Gretel, das das gesamte Knusperhäuschen gegessen hat. An einem sonnigen Freitag, an dem eine Probe des Orchesters in der Schule im Dorf stattfand, musste ich die Hexe anrufen, um etwas über die Rolle des Kindes im Orchester zu erfahren. "Entschuldigen Sie, dass ich kurz angebunden bin", sagte die Hexe mit ihrer sinnlichen Ich-bin-leidenschaftliche-Raucherin-Stimme, "ich bin in Rom, um den neuen Film meines Mannes zu präsentieren, ein Film mit Maria Grazia Cucinotta, den ich produziert habe und für den ich, in aller Bescheidenheit, die Filmmusik komponiert habe." Es folgte eine längere Erklärung dazu, wen man jetzt wo treffen müsse und das Wort Rai (italienisches Fernsehen) fiel mehrmals. Als ich eine Möglichkeit hörte, mich einzubringen, sagte ich empathisch: "Ich finde das sehr interessant, ich arbeite auch im Filmbereich." Ich ließ eine Pause, denn jetzt würde sie mich fragen, was ich denn mache, aber in der Pause hörte ich: "Ah." Dann ging es weiter mit Rai und Maria Grazia. Ich hörte zerstreut und lange zu und beschloß, die Hexe zu hassen.

Die Hexe war dann längere Zeit nicht da, na so eine Tournee, stellen Sie sich vor. Gretel unterrichtete, und am Ende des Schuljahres wurden das Kind und seine Kollegin eingeladen, bei einem Musikfestival zu spielen. Sie spielten in einer Kirche in einem mittelalterlichen Ortskern, von dem aus man weit über milde grüne Hügel blickte und es war alles sehr schön, sehr aufregend und sehr berührend und in der Kirche musste ich ein Schluchzen unterdrücken, wie immer, wenn das Kind Harfe spielt.

Die Hexe war in bester Form, sie breitete ihre nackten Arme unter einem getupften Gilet aus, zu dem sie einen gestreiften Rock trug sowie ihren unvermeidlichen Herrenhut. Sie stellte uns einen Schüler vor, und das war eben der, von dem ich jetzt, im Musikgymnasium, glaube, dass er es ist. Die Szene ist uns in Erinnerung geblieben, denn sie sagte: "Dann haben wir ihn aus dem Konservatorium genommen und ins Musikgymnasium -", sie hielt inne, schaute einen Moment starr, drehte sich um und ging. Das Kind und ich schauten uns an. Das Kind kicherte, ich war verunsichert. Welche Drogen waren das? Wir schlenderten durch den Ort, irgendwie hoffte ich, sie wieder zu sehen, ich wollte sicher sein, dass ihr nichts passiert war, auch wenn ich sie nicht so gerne mochte. Wir begegneten ihr wieder und sie konnte sich sogar erinnern, dass sie uns überraschend verlassen hatte. Sie musste ihre Medizin nehmen.

Zwei Jahre lang fällt es dem Kind dann vermittelt oder unvermittelt immer wieder ein: "Mamma, erinnerst du dich: ...und ins Musikgymnasium...und weg war sie, hahahaha!" Das Kind hat ein Faible für Situationskomik, die man nicht nacherzählen kann.

Und jetzt, in der Masterclass, setzt sich der vermeintliche Schüler "aus dem Konservatorium ins Musikgymnasium...." und ich blicke zu ihm in der letzten Reihe, ein Mädchen setzt sich neben ihn und sie flüstern, ich werde ihn später fragen, ob er ein Schüler der Hexe ist. Das gelingt mir leider nicht, denn er geht, bevor ich das tun kann und ich sehe nun die nächste Schülerin auf der Bühne, die ihre Schultern nicht so hochziehen soll. Die Meisterin legt ihre schlanken schönen Hände auf die Schultern des Mädchens. Alle Mädchen haben langes, nach hinten gekämmtes, zu einem Zopf gebundenes Haar, ein bisschen wie Tänzerinnen. Die Meisterin hat am Puls der rechten Hand einen gestreiften Pulswärmer, das einzige, was ein bisschen von der Strenge wegführt, die sie ausstrahlt. Sie ist etwa 60 Jahre alt, hat graues, kurzes und doch weich fallendes Haar, sie wirkt zart und doch kräftig. Sie trägt eine schwarze Hose mit weitem Bein, die wie ein langer Rock wirkt und fantastische Schuhe mit etwa 15 Riemchen. Ich trage Tennisschuhe und braune Socken und ich frage mich ernsthaft, was in mich gefahren ist, SO aus dem Haus zu gehen. Ich gelobe, angesichts dieser eleganten, kompetenten Dame, mein Leben zu ändern. Das Mädchen auf der Bühne schwitzt, die zweite Übersetzerin steht ganz gerade neben Meisterin und Schülerin und fragt, ob das Mädchen täglich übe oder eher unregelmäßig. Quelque fois, sagt die Übersetzerin zur Meisterin. Geht da ein Hauch Missbilligung durch den Raum? Auf jeden Fall ist die Scham des Mädchens zu spüren. "Seit wann spielst du?" übersetzt die Übersetzerin. Das Mädchen weiß nicht, was es antworten soll, das hat es ja schon gesagt: seit 4 Jahren. "Wie lange spielst du dann?" springt die andere Übersetzerin ein. Nun schämt sich die Übersetzerin mit der aufrechten Haltung. Das Mädchen kann sich wieder ins rechte Licht rücken: "3 Stunden." Das Kind hatte vor den Aufführungen einige Tag lang die kleine Harfe der Schule und spielte nach dem Mittag- und Abendessen jeweils etwa 20 Minuten, ich bezweifle, dass er 3 Stunden spielen könnte.

So geht es zwei Stunden in der Masterclass. 4 Mädchen spielen, werden rot, werden korrigiert, werden in den Arm genommen, die Meisterin spielt ihre Rolle mit französischer Anmut und Strenge. Ein Mädchen zupft verbissen, als wolle es der Harfe sagen: Du stures Ding, lass endlich den richtigen Ton aus dir heraus. Ein anderes Mädchen spielt, als würde es gemeinsam mit der Harfe am Bug der Titanic stehen, hinter ihr Leonardo DiCaprio und sie gibt ein letztes Mal alles. An diesem Mädchen ist die Meisterin besonders interessiert und sie lässt sie ein Stück viele Male spielen. "Non a ton temps, a mon temps. - Pianissimoooo."

Ewig könnte ich mir sowas anschauen. Ich denke an den Dokumentarfilm "Schubert und ich", in dem ein Musiker Leute von der Straße mitnimmt (oder zumindest so tut, als hätte er sie zufällig gefunden, und Schubertlieder singen lässt. Dieser Film hat mich ebenso inspiriert. Ich will auch ein Instrument lernen. Ich will auch singen.

Die Lehrerin des Gymnasiums setzt sich neben ein Mädchen, das nun auf der Bühne bei der großen Harfe sitzt und singt ihr die Noten vor: Dododofaremilala. "Sie dürfen nicht singen, wenn sie spielt, nononono", tadelt die Meisterin. Sie selbst singt aber auch. Versteh ich nicht. Soll ich fragen? Die Lehrerin des Gymnasiums schämt sich sichtlich. Später wird sie ihr dickes langes, blond getöntes Haar zu einem Zopf flechten. Auf der Bühne. Sie ist in meinem Alter und ich möchte ihr zurufen: Tu das jetzt nicht, hör auf, den blöden Zopf zu flechten, sofort, das schaut total kindisch aus.

Langeweile breitet sich sichtlich aus. Das Mobiltelefon einer Mutter aus unserer Gruppe läutet mit beeindruckendem Klingelton: "Est-ce que tu m'aimes? J'sais pas..." Maitre Gims, der Gassenhauer des Jahres, wie unglaublich passend. Die Harfemeisterin weiß nicht, ob sie lachen oder weinen soll. Die Augen treten einen Moment aus den Höhlen, sie wird rot und schüttelt den Kopf. Die angerufene Mutter lacht, die Tochter schämt sich.

Der Bruder der Kollegin des Kindes wandert mehrmals auf und ab und spielt Autorennen auf seinem Smartphone. Bin ich wirklich die einzige, die eine Katharsis erlebt? Ich gelobe, dass ich auch in einem Gebiet eine Meisterschaft erringen will, mit der ich dann ebenso gelassen und unantastbar auf einer Bühne stehen werde, wie die Harfemeisterin. Nur worin soll ich jetzt schnell so gut werden? Ich habe kürzlich gelesen, dass es 10.000 Stunden Übung an einer Sache braucht, um zur Meisterschaft zu gelangen. Ich rechne und mache Pläne, wie ich weniger Zeit zum Kochen, Putzen und zur Kontrolle der Hausübung aufwenden kann. Dabei habe ich vor kurzem noch ausgerechnet, wie viel ich arbeiten muss, damit ich dem Kind eine Harfe kaufen kann, damit es auch zu Hause und nicht nur in der Schule üben kann.

Irgendwann ist klar, dass die Kinder unserer Gruppe nicht spielen werden. Wir sind Publikum. Ein Funken Hoffenung bleibt, aber dann heißt es: "C'est fini." Was, echt? Wir sind da alle hergefahren, sogar mit einem Mercedes, um 2 Stunden zuzuschauen, wie die Maestra den Mädchen Tipps gibt, wie: "Findest du diese Sequenz tres jolie oder nur comme ci comme ca." "Nein, nicht so schön", sagt das Mädchen beschämt. "Wieso spielst du es dann so? Du sollst mit der Musik nicht nur Töne vermitteln, sondern auch etwas anderes, Liebe zum Beispiel."
MM vermittelt hingegen Missbilligung. Vor allem der Gymnasialprofessorin gegenüber: Sie wollte nicht, dass die Kinder unserer Gruppe spielen, denn dann hätte die Harfemeisterin gemerkt, dass unsere Kinder besser spielen, als die aus dem Musikgymnasium.
Das kann ich nicht beurteilen, sage ich.

Die Harfen werden verpackt. Die Kolleginnen des Kindes zupfen auf der noch freien Harfe, um vielleicht doch die Aufmerksamkeit der Maestra zu erregen, doch es ist zu spät.

Vor dem Gebäude machen MM und der mercedesfahrende Vater ein letztes Mal den Witz: Und wann spielst du? Dann gehen alle. Ich lade MM und das Kind auf ein Eis ein. In einer Erboristeria, in dem wir eine pflanzliche Medizin kaufen, bitte ich den Inhaber, mir Proben von Shampoos und Balsam zu schenken, weil das Kind es liebt, diese auzuprobieren. Da ist sie wieder, die Mutter-Journalistin, die keine Hemmschwelle kennt.

Ich frage das Kind, ob die Masterclass interessant war. Jaaa, sagt er zögernd. Hast du alles verstanden? Nein, schüttelt er den Kopf. Was genau war interessant für ihn? Was interessiert die Menschen, wenn sie etwas beiwohnen, was sie nicht verstehen oder was nichts mit ihnen zu tun hat und sie gönnen sich kein Abdriften zu facebook, wie die Mutter mit dem eindringlichen Klingelton? Ich denke an die vom Wind bewegten riesigen Vorhänge in der Aula, in sanftem beige und mildem rot. An die nicht immer angenehmen Harfetöne. Mir hat es ja gefallen, aber schlecht organisiert war es trotzdem. Der Neid der zöpfeflechtenden Professorin hätte es vereitelt, dass unsere Kinder dort gespielt hätten, sagt MM und lässt sich von dieser etwas verknöcherten Haltung nicht abbringen.

Ich habe mir vorgenommen, unsere Lehrerin zu fragen, wie das Kind nach dem Schulabschluss weiter Harfe spielen könne, aber ich vergesse die Frage, sie bleibt in dem kühlen, hohen Raum zurück, zusammen mit meinem Enthusiasmus und dem Vorsatz, ebenfalls eine Meisterin zu werden und keine Tennisschuhe mehr zu tragen, zumindest nicht mit braunen Socken.

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