Seit dem Sommer fahren wir täglich zu unserem neuen Haus. Täglich sehen wir einen Mann an der Staatsstraße gehen. Der Mann passt nicht an die Staatsstraße, er passt nicht nach Kalabrien, er ist blond und er geht auf der richtigen Straßenseite. Manchmal sieht man ein wackliges Männchen am Straßenrand, manchmal einen Wallfahrer gehen, aber nie einen Mann, der systematisch, täglich zur mehr oder weniger gleichen Zeit geht. Es ist zu unserer Gewohnheit geworden, nach ihm Ausschau zu halten, ihn in dem Moment des Vorbeifahrens zu analysieren und dann lang darüber zu philosophieren, warum er da geht.
Er trägt einen Rucksack auf den Schultern und hat etwas leichtVerkommenes, aber er ist nicht genug verkommen, um ihn als Strotter abzutun. Er geht auch jeden Tag den gleichen Weg und durchquert nicht Europa. Manchmal wird er auch auf der anderen Seite gesehen, auf dem Rückweg.
Die Kinder winken ihm zu, aber er schaut nie auf uns, er schaut nie auf die Autos. Er ist immer ganz bei sich, die Finger unter die Rucksackgurten geklemmt.
Der Sommer ist vorbei. Er war lang und schwierig.
Es ist Herbst und wir fahren immer noch. Ich bringe ein Kind in die Schule, das ist nicht seine Uhrzeit. Wir haben ihn immer am späteren Vormittag gesehen, in Richtung Wallfahrtskirche gehen. Aber geht er wirklich zu dieser Kirche? Hat er ein Gelübde abgelegt, wird jemand gesund, weil er sein Leben auf der Staatsstraße riskiert? Wird ihn seine Geliebte erhören, wenn er lang genug auf und ab gegangen ist?
Schon zwei Mal habe ich abends gemeint, sein Gesicht in einem Hollywoodfilm zu sehen.
Und dann habe ich ihn wirklich wieder gesehen, eine kleine Abzweigung vom normalen Nachhauseweg von der Schule zu einem Supermarkt in der Nähe der Wallfahrtskirche nehmend.
Da geht er, schon von weitem sichtbar, juchhu! Neues Outfit, neuer Ausdruck, er kaut! Er isst!
Er geht. Das Kauen verleiht ihm einen zufriedenen Ausdruck.
In den nächsten Tagen erfüllt mich rund um die Abzweigung zum Supermarkt immer Zufriedenheit. In meiner Phantasie wohnt er auf einem Campingplatz, etwa 10 km vom Wallfahrtsort entfernt. In meiner Phantasie betrachtet er täglich die Wetterlage und begibt sich auf den Weg. Wenn ich ihm begegne, ist er auf dem Nachhauseweg. Jetzt sind die Tage kürzer, er muss seinen Tagesablauf anders anlegen.
Vor zwei Tagen hatte ich wieder einen Grund und vor allem genug Zeit, die Abzweigung zum Supermarkt zu nehmen und da war er, in einem blau-weiß gestreiften Hemd, den Blick auf den Boden geheftet und er tat etwas, was ich noch nie gesehen habe, in keinem Land der Welt. Er näherte sich einer am Sraßenrand stehenden Mülltonne, hob einen kleinen Müllsack auf, der am Boden lag und warf ihn in die Tonne. Er blickte kurz in die Tonne und ging wieder weiter. Den Blick geradeaus, nie auf die Autos schauend, immer bei sich. Er ist dünner geworden, stelle ich fest und das Kind und ich beschließen, ihm das nächste Mal ein Brötchen zu geben. Aber ich beschließe immer etwas, nachdem ich ihn gesehen habe und glaube nicht, dass ich ihn je ansprechen werde.
Ich glaube nicht, dass ich je das Gefühl haben werde, nicht banal zu sein, angesichts des Mannes, der geht. Ein Mann geht täglich vielleicht 25 Kilometer, vielleicht mehr. Er geht während des Tages, er trägt einen Rucksack. Er geht täglich dieselben 25 Kilometer. Wovon lebt er, was tut er? Niemand geht hier zu Fuß, auch wenn es kein besonders gutes öffentliches Verkehrsnetz gibt. Er will auch nicht mitgenommen werden, denn er geht immer gegen die Autos (links gehen, Gefahr sehen!).
Seit ich ihn den Müll aufheben sehen habe, denke ich, er schreibt ein Buch. Er macht einen Selbstversuch.
Meine welterfahrenen Freunde frage ich, wie sie sich den Mann, der geht, erklären, aber sie lachen nur und fragen, ob ich sicher bin, dass auch andere den Mann gehen sehen.
Mich erfüllt er auf jeden Fall mit tiefster, insgeheimster und brodelndster Freude.
Auch wenn ich ihn nicht sehe. Während dieser langen Autofahrten, bei denen das Kind einschläft oder seinen eigenen Gedanken nachhängt, schreibe ich innerlich Gedichte, die alle mit den Worten enden: Und das Herz schlug ihnen zum Hals, ach.
Und ich überlege mir, mit welchen Worten ich den Mann, der geht, ansprechen kann, denn im Grunde genommen geht er mich überhaupt nichts an und ich habe Angst, alles zu verpatzen.
Sonntag, 1. November 2009
Dienstag, 1. September 2009
Italia chiusa
Wenn mein Mann nicht eine Arbeit in Italien hätte und ich nicht ein Haus gekauft hätte, wäre in diesen Wochen der richtige Moment gewesen, Italien zu verlassen und nie mehr wiederzukehren. Aufgrund extremer Hitze kollektiver Hirnaustritt. Beim Fliegen kommt mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Koffer an, das Telefon und Internet, das wir auf unsere neue Behausung ummelden wollen funktioniert einen Monat nicht (weil wir es ja umgemeldet haben - aber dort wo es neu installiert werden soll, erscheint bei drei Verabredungen kein Techniker und die Telecom hat haarsträubende Rechtfertigungen dafür), die Stromspannung ist niedrig weil so viele Sommergäste elektrische Geräte benutzen, dafür ist die Verschmutzung des Meers hoch, weil so viele Sommergäste scheißen und die Senkgruben ins Meer gelassen werden, oder die Kläranlagen ihren Inhalt nicht ganz geklärt ins Meer fließen lassen. Besonders eklatant ist es an Tagen, an denen das Meer aufgewühlt ist, vielleicht weil dann eh keiner ins Wasser will - außer meinen Kindern, die Wellen super finden. Mein Mann und ich schreien uns an, weil ich für den 12jährigen Sohn ein Vollpreiszugticket für die Eisenbahn kaufe, ich sage, ich halte mich eben an die Regeln, er sagt, es gäbe keine Regeln, sondern nur Diebstahl und den würde ich merken, sobald ich in den Zug steige. Ich versuche wacker zu sein und sage fidel zu den Kindern, dass es im Klo nur deshalb so stinke, weil es eben kein Wasser im Zug gäbe. Italien ist wegen Ferien geschlossen und alle freuen sich auf den September, wenn wieder so was wie ein normales Leben beginnt, nur mit den ganz normalen Schwierigkeiten, die wir schon kennen. Vielleicht allerdings sperren nach 13 Wochen Ferien die Schulen wegen der Schweingrippe nicht auf und wir behalten unsere Kinder die Heimweh nach der Schule haben, weiter zu Hause, wir wissen zwar nicht mehr wann wir arbeiten sollen, aber con l'aiuto di Dio werden wir auch das hinkriegen.
Sonntag, 2. August 2009
Im Paradies der Susinen
Am 16. Juli kaufen wir dieses Haus, unser Haus mit 5000 qm Grund, mit immer noch nicht genau gezählten, aber oft angestarrten Olivenbäumen, Feigenbäumen, Pfirsich- und Birnbäumen, mit Zitronen-, Mandarinen-und Orangenbäumen und mit meinem einzigen, unglaublichen Susinenbaum. Susinen sind runde violette Zwtschken mit einem kleinen Kern wie bei einer Kirsche. Zuerst stehe ich unter dem Baum und pflücke zaghaft die kleinen Kugeln, dann hebe ich meinen kleinen Sohn in die Baumkrone, am nächsten Tag lehne ich zwei Leitern strategisch günstig an den Baum und schließlich klettere ich selbst hoch, als wäre ich wieder 8 Jahre alt und empfinde die selben Gefühle von absoluter Priorität: Erreichen der Frucht. Nur ein wenig Strecken noch. Wer immer rief und ruft, seine Stimme geht unter in der flirrenden Distanz zwischen dem eifrigen Mittelfinger und der eigenwilligen Frucht. Damals noch mit dem katzenhaften Kinderkörper, heute mit zu bekämpfenden Gedanken an Halskrausen und Rollstühle - und alles wegen einer Zwetschke. Das Kind zählt sie einzeln, ich stelle sie auf die Waage und preise und lobe, backe einen säuerlichen Strudel mit der Frucht meiner meditativen Tätigkeit und ein halbes Glas Marmelade "a tempo perso", in der verlorenen Zeit, die eigentlich gewonnene Zeit heißen müßte - "a tempo vinto".
Nach der anfänglichen Euphorie über das Zustandekommen des Kaufs, den betäubenden Lesungen des Notars, der schließlich doch ermüdenden Heiterkeit der Vorbesitzerin und den verwirrenden, zahlreichen Besuchen von ihren Verwandten und (unseren neuen) Nachbarn stellt sich Ernüchterung und Zweifel ein. Eigentlich ist das Land ziemlich wenig bearbeitet. Eigentlich wissen wir nicht, wo mit den Renovierungsarbeiten beginnen sollen. Und mit welchem Geld. Eigentlich gibt es einen unangenehmen Geruch im Haus. Eigentlich bin ich müde und mein bestehender Haushalt funktioniert doch. Aber es gibt keine Alternative. Da drüben sind die Hügel, da unten ist das Meer, da vorne steht der Zitronenbaum. Die Kinder werden vormittags in die Ferienkolonie geschickt, das Ausufernde der Freude und Unsicherheit, die ihr durch das Haus Flitzen steuert, gewährt keinen Platz für die Kontemplation, die wir uns drei Tage lang gönnen.
Die Nachbarn bringen Tomaten, Auberginen, Gurken, Paprikaschoten, Zwiebeln und Frittata. Selbstgebackenes Brot, Pizza und selbstgekelterten Wein. Nicht nur einmal, sondern immer.
Samstag, 18. Juli 2009
Als wir unser Auto abstellen, höre ich weibliche Stimmen aus dem Haus kommen, die Fenster stehen offen, es klingt, als ob die Frauen singen würden . Die Palme steht noch und am Zitronenbaum hängen dicke leuchtend gelbe Zitronen. Ich bin beruhigt. Auf den Feigenbäumen strecken sich pralle kleine Feigen der Sonne entgegen. Meine albtraumhafte Vorstellung, unser in meiner Erinnerung in der Oase gelegenes Haus hätte sich einen Tag nach Vertragsabschluss in eine Bruchbude in der Staubwüste verwandelt, hat sich nicht bewahrheitet. Die Frauen räumen den Geschirrkasten der Vorbesitzerin aus, wir bekommen Kaffee und das Versprechen den langen langen Tisch stehen zu lassen. "Quante tavolate abbiamo fatto qui!" sagt die Vorbesitzerin mit ihrem zuversichtlichen, wissenden Lächeln. Ich denke gar nicht an Essenseinladungen, sondern dass die Kinder hier ihre Aufgabenhefte liegen lassen können und wir trotzdem genug Platz zum Essen haben werden. Sechs Stühle will sie sich mitnehmen und ich zähle schnell alle Stühle, es sind mehr als zehn. Plötzlich bin ich ganz begierig, die Dinge festzuhalten, als könnten wir damit das Glück festhalten, das hier (vielleicht) einmal gewohnt hat.
Schnell zehn Minuten allein sein, ein Blick aus dem Fenster des Schlafzimmers der Schwester, wie gerne säße ich schon hier und schaute auf die grün bewaldeten Hügel mit einem Stift in der Hand. Hoffentlich nimmt sie nicht die schöne alte Kredenz der Schwester mit. Im Rohbau erzählt MM von einem begehbaren Schrank, aber ich sehe nur die Palme vor dem Balkon, warum denn ein Schrank, ach nein, das wird das Schlafzimmer, ja, ich würde mich am liebsten gleich hinlegen, auch auf den Boden.
Die Vorbesitzerin sagt, sie werde sich einige Pflanzen mitnehmen, den Rest lasse sie mir da, sie umarmt mich und meint, sie sei froh. "Ich bin auch froh", sage ich und schaue verzückt auf Ziegelsteine.
MM will alles verändern und ich will alles umarmen und meinen Kopf auf die alten Dachschindeln legen.
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