Donnerstag, 15. Juli 2010

Milano

Wer hätte je gedacht, dass die Stadt Milano einst dazu angetan sein wird, mein Leben zu bereichern und zwar ganz gewaltig. Das Kind muss operiert werden und die dattilografische Familie tritt eine Reise im Autobus an. Eine ungewöhnliche Reiseform, aber ganz lustig. Lustiger als Flughäfen, von denen ich in den letzten Jahren ausreichend hatte, lustiger als verschmutzte Zugtoiletten. In Milano ist es heiss und schön. Von unserem Apartment aus sehen wir den Dom, in demselben Haus befindet sich der einzige Supermarkt in ganz Milano Zentrum, dementsprechend voll ist er mit schönen Menschen, die alle total dem Klischee entsprechen: sie sind gut gekleidet und sehr beschäftigt. Kurz vor Sperrstunde um 20.30 wird es am besten: schöne (alleinstehende?) Männer in noch schöneren Anzügen kaufen Fertigprodukte. Sie sind alle sehr höflich und springen schnell zur Seite, wenn ich mit meinem kleinen Einkaufswagen vorbeipresche. Niemand telefoniert. Manche haben etwas zu kurze Hosen und man kann ihre Strümpfe sehen, die aber niemals weiß sind. Wir besichtigen den Dom und seine Umgebung, entdecken das weltbeste Eis in einer Gelateria namens Grom und sogar der präpubertäre 12-Jährige , der anfangs behauptet, Eis sei immer gleich, gibt zu, dass dieses Eis besser ist als alle anderen, was mich für die Dauer von mittlerweile einer Woche mit ihm und der Welt versöhnt. In einer Buchhandlung in der berühmten Galleria Vittorio Emanuele II kaufen wir Comix von Iron Man, Naruko und ein Barbie-Ausmalbuch, was wiederum meine Kinder für eine Woche glücklich stimmt. All die schönen Bilderbücher und die wertvolle Jugendliteratur haben sie wohlwollend zur Kenntnis genommen und sich anschließend für oben erwähnten Ramsch entschieden.

Das Krankenhaus erreichen wir nach einer pittoresken Fahrt mit der Tram Nr. 12, es trägt den zumindest für mich für ein Kinderspital anheimelnden Namen Buzzi. Das Buzzi ist sensationell. Die Krankenschwestern tragen bunte Arbeitskleidung, auf der Nadel zum Blutabnehmen steckt ein Schmetterling und nach jeder Untersuchung dürfen/sollen die Kindern in das Spielzimmer gehen. Dort sind jede Menge Bücher, anregend geordnetes Spielzeug und zwei nette ältere und junggebliebene Damen, die die Kinder zum (gemeinsamen) Spielen anregen. Auch unsere Kinder, die nur zur Begleitung dabei sind und prophylaktisch angeödet und rabiat werden, dürfen dort das Beste aus sich herausholen. Der Rallyefahrer spielt lange mit einem Jungen im Rollstuhl ein Spiel, bei dem man Personen erraten muss, der große Sohn legt mit einer Betreuerin etwa drei Stunden lang ein Puzzle, das zu untersuchende Kind jauchzt vor Glück über die Spielzeugküche und wir Eltern sitzen fertig und gerührt in einem Eck. Ich denke nur, wie schade es ist, dass manche reichen Leute ihr Geld der Kirche vererben, statt der Organisation ABIO (Amici dei Bambini in Ospedale). Das sind die beiden wesentlichen Erfahrungen von diesem Spitalsaufenthalt: dass Spielen im Spital wichtiger ist als alles andere und dass Eltern alles dafür geben würden, wenn sie sich an Stelle ihes Kindes operieren lassen könnten. Eigentlich würde ich auch den Begriff "Day Hospital" in die Hitliste aufnehmen, aber hier wurde die Ambitioniertheit des Spitals doch ein wenig vom schwankenden und kotzenden Kind in Frage gestellt, dass dann eine Nacht dort blieb. MM übernachtete im Elternbett, dass es in jedem Zimmer gibt und ich meinte eigentlich, ich hätte das schlechtere Los gezogen, als ich lange auf die Tram 12 wartete, die dann in Form eines Holzwaggons aus dem Jahr 1928 kam. Das gefiel mir wiederum: in jeder anderen Stadt muss man extra bezahlen, wenn man in einem historischen Verkehrsmittel fahren will. Der Fahrer, der den Metallhebel drehte stammte eindeutig aus Sizilien, das konnte ich aus der Verwendung des Passato remoto schließen: "...dopo la sfuriata che feci..." erzählte er am Telefon. Ich versuchte immer zu sehen, wo denn dieses Telefon war, und ob er wirklich nur mit einer Hand steuerte. "Angela, du sollst mich nicht hassen..." Das ist die Art von Gespräch, die man nicht bei der Arbeit führen sollte und tatsächlich, nach etwa 15 Minuten war es so weit: "Porca miseria! Ich habe die Umleitung übersehen!" Dann ruft er seine Leitstelle an, bekommt eine Auskunft, nach der er aufsteht und sagt: "Signori, wer nach Via Molise möchte, kommt jetzt mit mir, aber ich muss zurück fahren und umdrehen, wer ins Zentrum will, steigt besser aus." Die Fahrgäste protestieren mit gewählten Worten, schließlich sind wir hier nicht in Napoli. Ich bin in leichter Panik, denn ich kenne mich hier nicht aus, aber zum Glück hat uns dieses ungewöhnliche Schicksal eines sich verfahrenden Tramfahrers an einer Metrostation ereilt. Die Metro gibt mir wieder Auftrieb, denn hier erkennt niemand, aber auch gar niemand, dass ich nicht aus Italien stamme, in diesem Metrowaggon stammt überhaupt niemand aus Italien, sondern aus Spanien, Südamerika, China, Indien, Pakistan usw. usf. Ziemlich müde stöckle ich über Piazza Duomo, wo gerade das Viertelfinale der WM auf einer großen Leinwand übertragen wird. Eben springen die Zuschauer vom Boden auf und jubeln. "Wer hat gewonnen?" frage ich einen Müllarbeiter im Vorbeigehen. "Spanien."

In der kleinen Gasse, in der sich unser Apartment befindet, erschrecke ich, weil ich von irgendwoher "Mamma!" rufen höre. Tatsächlich schauen von oben die Kinder herunter, hoch erfreut, dass sie jemand aus ihrem Fernsehgefängnis um halb elf Uhr abends erlöst. Oder sind sie schon die ganze Zeit am Fenster gestanden? Ich koche alles essbare, was ich finde, das ist nicht viel und schmeckt nicht besonders gut und schaue mir mit ihnen einen Film namens "Blöd und noch blöder" oder so ähnlich an, wobei ich einschlafe. MM erzählt mir am nächsten Tag, er sei mindestens sechs Mal aufgestanden, weil der Tropf des Nachbarkindes immer zu piepsen begann, der Vater dieses dreijährigen Kindes mit Blinddarmoperation aber aus Erschöpfung nicht mehr reagierte. Unser braves Kind schlief von 22 bis 7 Uhr und präsentierte sich später am Tag heimgekehrt mit den Worten: "Ich habe überhaupt nichts gespürt!" Dafür bin ich dankbar - dass er sich an die schlimmste halbe Stunde meines Lebens nicht mehr erinnern kann, als er aus der Narkose aufwachte, bevor das Schmerzmittel zu wirken begann und er brüllte und jammerte, sich die Kanüle von der Hand reißen wollte, im Bett rotierte und immer wieder unbeherrscht an seine Wunde griff. Als mein Rotz auf ihn tropfte, weil ich keine Hand frei hatte, um meine Tränen wegzuschnäuzen und er mich mit der Weisheit der 8-jährigen aufforderte: "Lächle, Mamma!"

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