Freitag, 2. Juli 2010

Generation unverschämt

Schwarzer Tag für Dattilografa, schwarzer Tag. Im Nebenerwerb oder aus Freundlichkeit helfe ich meiner Kollegin bei einer Prüfung in Deutsch von StudentINNen im ersten Jahr auf der Wirtschaftsfakultät, der Kurs heißt Tourismuswissenschaften und gehört meiner Meinung nach geschlossen. Etwa 85 20 -jährige Menschen drängen sich in einem zu kleinen Hörsaal und wollen nach einem 30-Stunden dauernden Deutschkurs die dazu gehörige Prüfung ablegen, für die sie fünf Credits bekommen. Der Hysterie ist kaum Einhalt zu gebieten. Die Professorin, die einführende Worte spricht, nachdem sie die Studenten ihre Taschen an die Wand stellen hat lassen, wird überhaupt nicht gehört. So wie der Unterricht meistens überhaupt nicht gehört wurde. Diese jungen Menschen sind nämlich hauptberuflich aufgeregt und mit sich selbst beschäftigt. Dann schauen sie sich die Prüfungsblätter an - es handelt sich um einen Test, bei dem Basisaufgaben zu erfüllen sind (Verbkonjugationen, Perfekt, trennbare Verben, Textverständnis, Uhrzeiten), zu dem es ein Skript gab, das alles sehr einfach erklärte und um sehr wenig Geld leicht zu erwerben war - und brechen in geräuschvolle Panik aus. "Silenzio!", rufe ich gebieterisch, "das ist eine Prüfung und keine Gruppenarbeit!" Mein strenger Ton funktioniert anfänglich, aber in der Geschwindigkeit von genialen Laborrattten haben sie sich daran gewöhnt, dass ich eine deutschsprachige Unsympathlerin bin und beginnen sich eng aneinander zu drängen, um voneinander abzuschreiben. Ich setze einige Menschen auf einsam gelegene Plätze, bis mir auch das nicht mehr gelingt. "Wieso ich?" fragen sie, "Wieso nicht?" sage ich, "in dieser Reihe dort gibt es genug Platz, setzen sie sich nach vorne." "Nein," sagt ein junger Mann, "sie haben mich erst einmal ermahnt!" Ich starre ich an. "Haben wir ein Abkommen darüber, wie oft ich sie ermahnen muss?" frage ich ihn. Er ist ein hübscher Junge mit großen Ray Ban Brillen auf der Stirn. "Nein," wiederholt er,"ich setz mich nicht nach vorne, nein." Entschieden schüttelt er den Kopf. Seinen Nachbarn bricht der Schweiß aus, mir auch, meiner ist kalt. Ich spüre, wie die Lust in mit hochsteigt, ihn hochzuziehen und an die Wand zu schmeißen. Ich sage: "Da vorne ist Platz, hier sind zu viele Menschen, sie schummeln." "Nein", sagt er und hält sich innerlich an seiner Bank fest. "Mi pare brutto", das macht keinen guten Eindruck. Ich glaube, dass mir in diesem Moment die Augen aus den Höhlen quellen wie Marty Feldmann. "Vuole sapere che cosa a me pare brutto?" frage ich ihn drohend, ob er wissen will, was bei mir keinen guten Eindruck mache. Ich mache ihm allerding genau gar keinen Eindruck und er klammert sich kopfschüttelnd an seinem Prüfungsblatt fest. Wenn ich nicht handgreiflich werden oder mit übergeordneten Personen drohen will, kann ich nur einlenken. Ich sage: "Wenn ich sie noch einmal reden sehe, gehen sie da nach vor, ohne dass ich noch etwas sagen muss, sind wir uns darüber einig?" Während wir uns darüber einig werden, wurden etwa 200 Informationen zu verschiedenen Grammatikthemen ausgetauscht. Und so geht es weiter. Eine junge Dame, die ich ebenfalls auf einen anderen Platz setzen möchte, da sie angestrengt versucht, sich bei ihrer Nachbarin schlau zu machen, fragt ebenfalls: "Warum ich?" Ich sage." Weil sie sprechen." Sie sagt: "Professor, sie werden mich nicht mehr sprechen sehen." Ich sage laut: "Ich werde sie nicht mehr sprechen sehen? Dann halten sie bitte auch ihre Hand so, dass ich nicht lesen kann, was drauf steht." Das bringt mir Punkte, die will ich aber nicht, weil jetzt wieder neues Geraune ausbricht.
Meine beiden Kolleginnen versuchen auf ihre Art, ebenfalls das beste aus der Situation zu machen, eine gesteht mir nachher, dass sie einfach schallend lachen wollte, was ihr aber nicht möglich war, als sie mich sah. Ich kämpfte zwei Stunden mit dem Gefühl, einfach aufgeben zu wollen und Windmühlen Windmühlen sein zu lassen.
Es ist die Dreistigkeit der Studenten, die mich auf und ab gehen läßt wie einen Kapò. "Verbindet euch mit der Realität", sage ich, "das ist kein Witz und keine Gruppenarbeit, das ist eine Prüfung". "Professo'", sagen sie mitleidig zu mir, wenn ich vor ihnen stehe und verlange, dass sie zumindest in meiner unmittelbaren Präsenz zu schummeln aufhören sollen. Subtext: Führ dich nicht so verkrampft auf, Alte.
Ich bin fassungslos und ich stehe noch beim Abendessen unter Schock. Stunden danach schüttle ich nur den Kopf. Auch meine Kolleginnen sagen, sie hätten so etwas noch nie erlebt. Ich habe schon einige Prüfungen abgehalten, normalerweise sind die Professorinnen am lautesten, denn sie gackern und kichern, während die armen Studenten schwitzen. Heute fand die Rache aller Studenten in Form dieses unbändigbaren Haufens statt.
Ein junger Mann, der seine Prüfung bereits abgegeben hatte, stand an der Tür und starrte interessiert in den Raum. Sein Hemd war ungefähr so groß wie das meines 11-jährigen Sohns. Sein dicker Bauch schaute frech unter dem Hemd hervor. Ich fragte ihn, warum er da stehe, wenn er doch fertig sei. "Professo'... warum kann ich da nicht stehen?" fragte er mit gelassener Überheblichkeit. Ich wollte sagen: "Weil es sich hier um eine Prüfung handelt, du fettgefressenes mickriges kleines Arschloch." Ja, genau das wollte ich sagen, weil diese Art mich daran erinnerte, dass in Italien schnell einer Minister wird, wenn er unter Anklage steht, damit er von der Immunität profitiert. Weil hier alle sagen: Warum kann ich hier nicht stehen? oder: Warum kann ich nicht Minister sein? Oder: Warum werde ich wegen Verbindungen zur Mafia angeklagt? In anderen Ländern gehen Studenten aus dem Raum, wenn sie ihre Prüfung abgegeben haben, in anderen Ländern treten Minister zurück, wenn Unregelmäßigkeiten in ihrem Gebaren festgestellt werden, in Italien werden sie gerade dann und jetzt erst recht Minister.
Und das Wort "Warum" (perchè) schreiben sie (sogar bei der Matura) xke...
Ich habe von Professoren an höheren Schulen gehört, die sich gewisse Klassen nicht mehr zu betreten getrauen. Ich weiß auch, dass besonders strenge Professoren eher respektiert werden. Ich habe auch Angst, aber nicht vor den Studenten, sondern vor mir selbst. Ich habe selten so Lust gehabt, jemanden zu schlagen, wie heute, und dabei hätte ich vor wenigen Monaten noch behauptet, dass es Spaß macht, an einer Uni zu unterrichten.
Den ganzen langen Nachmittag korrigieren wir die rhythmisch gleichen Prüfungsblätter, da ja gruppenweise voneinander abgeschrieben wurde. Manches haben sie einfach schlecht verstanden, kein Wunder bei der Lautstärke. Meine Kollegin ist wild entschlossen, alle Ergebnisse einen Punkt hinabzusetzen, da ja ausnahmslos geschummelt wurde. Eine kleine Rache im Verhältnis zu der Furcht vor der Zukunft, die sich auftut.

Heute denke ich, der gehende Mann ist ein durchgeknallter Mittelschulprofessor, der aus Fassungslosigkeit seine täglichen 30 km geht.

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