Freitag, 8. Januar 2010

auf der suche nach einem krankenhausordner

Ein Haus zu renovieren ist so, wie einen Film zu produzieren, meint MM, während er den Installateur und die Maurer koordiniert, den Bagger bestellt und den allround-Helfer einsetzt. Daher übernehme ich nach meinem Aufenthalt im Exil, der immerhin dazu gedient hat, Abstand zu gewinnen, einige seiner außerhalb des Hauses liegenden Aufgaben. Eine davon hat sich am Tag des Halloween aufgetan, als unser Kind eine 4 Meter hohe Mauer hinunterstürzte, auf einem Erdweg aufkam und anschließend zwei Tage im Spital verbrachte, wo man feststellte, dass es keine Verletzungen von diesem Sturz davongetragen hatte, dafür aber eine Zyste auf der Leber hat, die ein Viertel der Leber bedeckt und gleich operiert werden sollte. Da wir aber vor Operationen lieber noch einmal tief Luft holen, lebt das Kind seitdem völlig unbehelligt und schmerzfrei wie bisher und wir versuchen, den besten Arzt zu finden, nachdem uns das Spital, in dem die Diagnose gestellt wurde, enttäuscht hat. Heute wollte ich den Ordner mit den Untersuchungsergebnissen (Ultraschall, Röntgen, Bluttest) in unseren Besitz bringen und dachte, das könnte ich in der Direktion des Krankenhauses tun. Dort standen viele Menschen und ich fragte eine Frau, ob sie in der Reihe angstellt sei. Was ich brauche, entgegnet sie und ich antwortete, dass ich einen Ordner abholen wollte. "Das machen die nach 10 Uhr, vorher gibt es nur Bluttests", mischte sich geschäftig eine auf einer Bank sitzende Ordensschwester ein. Ich wollte bereits meinen Tagesablauf umorganisieren, als mir der Gedanke kam, dass diese Ordensschwester möglicherweise aus einer professionellen Deformation heraus Auskünfte gab, für die sie gar nicht kompetent war. Es gab aber auch einen Informationsschalter, an dem ein Mann saß, der zweifellos weniger vertrauenswürdig als die Schwester aussah und mich vom Erdgeschoss in den dritten Stock schickte. Dort fand ich die Abteilung für Orthopädie und begann, gereizt zu werden. Zwei Krankenpfleger schoben ein Bett durch den Gang. "Entschuldigen Sie, ich wurde in den dritten Stock geschickt um einen Ordner abzuholen" sagte ich und nahm an, sie würden verständnislos schauen, aber sie lotsten mich ungerührt nach rechts ganz hinten. Und dort befand sich zu meiner Überraschung das Archiv, vor dessen geöffneter Tür ich ein wenig wartete und schließlich eintrat, worauf eine gepflegte Dame aus einem Badezimmer trat. "Guten Morgen, ich möchte eine Krankengeschichte abholen." - "Haben sie das Ticket bezahlt?" - "Ticket?" frage ich. Natürlich weiß ich, dass Patienten in Italien für jede Leistung eine Art Selbstbehalt, eben ein Ticket zahlen (was heißt Patienten - wir zahlen das, die meisten haben irgendeinen Schmäh, um davon befreit zu sein. Manchmal finde ich Beamte, die mit mir Mitleid haben, weil ich offenbar die einzige bin, die das Ticket bezahlt, und die denken sich dann für mich einen Schmäh aus. Ich finde es auch ok, für Untersuchungen zu zahlen, aber wofür soll ich jetzt noch zahlen, die Untersuchungen sind gemacht und bezahlt, muss ich das Papier zahlen, in dem sie aufbewahrt sind?). "Haben sie einen Antrag gestellt?" wird die Dame ungeduldig. Nein. Ich diktiere den Namen des Kindes, den sie falsch einträgt, dann gibt sie mir das Blatt mit einem Kugelschreiber, der den Geist aufgibt, als ich unterschreibe. Ich muss jetzt ein Ticket bezahlen und dann wieder kommen. Wielange dauert es dann, bis ich den Ordner mitnehmen kann, frage ich. Das kommt darauf an, ob der Ordner bei ihr ist oder noch in der Abteilung, sagt sie und macht einen folgenschweren Fehler für unsere ohnehin etwas ruppige Beziehung. Sie steht auf und geht zu einem Kasten, öffnet ihn, da stehen vier dicke Ordner und in dem vom Oktober sehe ich gleich den Namen (wieder falsch geschrieben, aber diesmal anders) meines Kindes. "Da - das ist er!" sage ich hoffnungsfroh. Sie setzt sich. "Gut!", sagt sie, "dann dauert es zehn Tage." Ich bleibe sehr freundlich. "Wieso?" - "Was, wieso?" - "Wieso nehmen sie nicht diesen Ordner und geben ihn mir?" Sie holt Luft: "Signora!" sagt sie drohend und da schwingt ein wenig von "gleich hol ich jemanden mit der Zwangsjacke!" mit, "Signora, es dauert zehn Tage!". "Warum dauert es zehn Tage, einen Ordner aus einem Kasten zu nehmen", sage ich mit unerschütterlicher Höflichkeit. "Da ist er!" schiebe ich nach. Sie klopft auf zwei Papierstöße, die im Vergleich zu denen auf meinem eigenen Schreibtisch sehr übersichtlich sind. "Warum soll ich ihnen einen Ordner früher geben, als jemandem, der am 4. Januar eingereicht hat!" Hier verpasse ich leider die passende Antwort, die gewesen wäre: "Weil ich ihn brauche", aber irgendwie sehe ich diese Ungerechtigkeit den anderen gegenüber durchaus ein. "Und außerdem ist meine Verantwortliche nicht da, sie muss das unterschreiben. Und sie ist nicht da! Schon seit drei Tagen!" Schwingt da ein wenig der Vorwurf von wegen Sodom und Gomorrha mit? "Wenn meine Vorgesetzte unterschreibt, kann es auch weniger als 10 Tage dauern, sie können anrufen." Eigentlich bedeutet das meinen Sieg, denn ich habe mir erwartet, dass sie, um mir etwas zu Fleiß zu machen, es 14 Tage dauern lässt. "Verstehen Sie?" "Ja", sage ich, "jetzt verstehe ich. Auf Wiedersehen!" "Sie müssen wiederkommen!" ruft sie mir nach, vielleicht ahnt sie schon, dass ich im Begriff bin, auf diesen Krankenhausordner zu verzichten, weil es mir vergleichsweise einfach vorkommt, neue Röntgenbilder anzufertigen. Dann habe ich die gute Idee, den Sekretär des Lebergurus anzurufen, zu dem ich das Kind bringen will, daher eben die Notwendigkeit des Ordners. Ich erkläre ihm die Situation, er sagt mir, ich soll ihm gut zuhören und schickt mich zu einer Frau, deren Namen ich mir merke, weil er einer Region Italiens entspricht, in der ich immer schon Urlaub machen wollte. Aber die Frau mir dem schönen Namen ist in der Direktion. Ist sie die abwesende Vorgesetzte? Ich sage ihrem Sekretär, worum es geht. Heute ist Freitag, der Termin beim Leberguru ist am Dienstag. Achso, naja dann. Er sagt, ich soll am Montag wieder kommen, und auf irgendeine Art werde ich zu meinem Ordner kommen. "Unmenschliche Leute" brummelt er, als ich ihm sage, dass aber doch zehn Tage dauern sollte. Er hat braune Ränder an den Fingernägeln. Vielleicht hat er gestern Unkrauft gejätet. Ich gehe an der Ordensschwester vorbei, die immer noch auf ihre Blutabnahme wartet.
Auf dem Parkplatz winke ich dem zahnlosen selbsternannten Parkplatzwächter zu, dem ich mein letztes Kleingeld, 40 Cent, gegeben hatte und der mir dafür ein Armband mit ca. 14 Mal dem Konterfei von Padre Pio geschenkt hatte. Ich fühle mich wie das leberkranke Kind, wenn es vor seinem Computerspiel sitzt und schwer vor Aufregeung atmet. Nur ein Weg führt zum Krankenhausordner. Werde ich ihn rechtzeitig finden?

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