Donnerstag, 19. Januar 2012

Dauerbrenner: First Love

Ich habe eine Phase pädagogischer Vorbildlichkeit. Den Rallyefahrer, der seine Jeans samt Mobiltelefon beim Break-Dance vergessen hat, schreie ich nicht an, sondern fordere ihn auf, in der Tanzschule anzurufen, um zu fragen, ob es seine Hose noch gibt. Er ist übrigens am Vortag in einer Trainingshose nach Hause gekommen, sonst hätte vielleicht irgendwer gemerkt, dass die Hose fehlt. In der Tanzschule wird die Hose gefunden und während der große Bruder "Assassin's Creed", ein Spiel mit einem gräßlchen Namen auf dem Nintendo spielt, darf der Rallyefahrer mit mir in die Tanzschule fahren und die Hose holen und anschließend auch gleich ein Anmeldeformular aus der Schule, welches ebenfalls vergessen wurde. Der große Bruder fühlt mir die Stirn: "Du bist viel zu ruhig." Ich muss Fieber haben.

Habe ich aber nicht, und ich will abends sogar aus der Iliade vorlesen. Da sagt der große Bruder, der sonst ein extremes Mitteilungsbedürfnis hat ("Mama, ich geh jetzt aufs Klo!"), achja, er hätte das Buch an Elisa weitergeborgt, die hätte etwas nachlesen müssen. Achja. Ohne pädagogische Orden auf der Schulterklappe hätte ich gesagt: "Bist du verrückt? Aus diesem Buch lese ich doch vor." Oder:"Kann Elisa in so einem Fall vielleicht ihre Mutter fragen, ob sie ihr das Buch für 9 Euro 90 kauft?" Oder: "Und warum sagst du mir das nicht?" Der Antworten gäbe es viele, aber es handelt sich schließlich um jene Elisa, die im Zusammenhang mit dem Sohn die Luft zum Vibrieren bringt. Und da das Mitteilungsbedürfnis auch vor ein paar Wochen schon so groß war, dass ich in Kenntnis der Tatsache gesetzt wurde, dass a) Elisa immer schöner wird, b) Elisa bei der Geburtstagsfeier von X das Haar offen trug, sage ich jetzt nichts.
Ich hoffe, Elisa liest mit wallendem Haar von der schönen Sklavin Briseide, deren Verlust den armen Achilles schluchzen ließ.

Kritik kommt ohnehin aus den eigenen Reihen: "Und deshalb gibt es heute keine Lektüre!" faucht der Neunjährige den Großen an. Der Neunjährige wiederum meint, der Häßlichste in seiner Klasse zu sein, denn ein Mädchen aus seiner Klasse fände den Sohn des Rechtsanwalts schön.

Attraktion ist etwas höchst individuelles. Wie sehen Sie das, Dr. Freud? Als ich im Alter des großen Sohns war, habe ich mit offenen Augen viele Stunden davon geträumt, dass mich ein gewisser Bursche küsse, was dieser dann auch getan hat. Ich glaube, ich habe damals schon gewusst, dass der gewisse Bursche nicht dem Schönheitsideal entsprach und auch sonst keine erwähnenswerten Vorzüge hatte. Ehrlich gesagt, er war eher hässlich, hatte eine lange Nase und zotteliges Haar und über seine intellektuellen Fähigkeiten breitet sich ein großer Mantel des Schweigens. Sein Kuss schmeckte nach Extrawurstsemmel und ich war davon überzeugt, dass man den Kuss auf den Lippen sehen konnte. Ich muss gleich im Spiegel nachschauen, vielleicht bleibt der erste Kuss ja für immer sichtbar.

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