Donnerstag, 26. Januar 2012

Poesie des Alltags

Die Moderatorin einer Radiosendung verspricht ein Gespräch mit einer Autorin, die Poesie des Alltags verfasst. Das interessiert mich ungeheuer, denn einen Alltag habe ich auch und ich bin begierig darauf, zu erfahren, wie ich demselben Poesie abringen kann. Leider beginnt es im Autoradio nun laut zu rauschen, das ist immer so, in diesem Abschnitt des Wegs, den wir zur Zahnärztin fahren, immer auf diesem langen Stück am Meer entlang, rechts liegt eine unverbaute Ebene, bevor die steilen Berge beginnen. Verdammt, werde ich das nie erfahren, wie es mit der Poesie und dem Alltag ist. Das Kind schläft auf der Rückbank und atmet schwer. Es hat noch seine hellblaue Schulschürze an und schwitzt. Manchmal leuchtet sie ja auf, einen Moment lang, die Poesie. Zum Beispiel, wenn ein Lied ausklingt, in dem der Sänger von seinem unbeschuhten Herzen singt. Il mio cuore scalzo. Genau so. Vielleicht ist es auch sein barfüßiges Herz. Oder das Kind, das immer selber singen will, bedient sich ungewollt der Poesie. Es singt in einer nie existiert habenden Sprache und möchte dann aber bitteschön immer einen Titel zur Inspiration bekommen. Ich bin dabei nie sonderlich inspiriert, meine Titel lauten dann immer so ähnlich wie: "der erste Stern am Himmel" oder "mit dir spüre ich die Kälte weniger", wenn nicht einfach:"der Tag geht zu Ende, die Nacht bricht an." Das Kind ist damit nicht immer zufrieden und dichtet selbst: "La malinconia può creare amore", die Melancholie kann Liebe schaffen. Wenn das nicht poetisch ist. In dem Buch, das ich gerade lese, geht es um Schiffe, die mitsamt ihrem radioaktiven Müll versenkt werden, aber selbst in diesem Werk gibt es einen Satz, der mich poetisch dünkt. Der Reporter, der Held des Romans, wurde mit seiner neuen Liebe, einer Umweltschützerin, in eindeutigen Situationen fotografiert und diese Fotos wurden veröffentlicht, um ihn und seine Berichte in Misskredit zu bringen. Nun hält er sich von der Frau fern, er muss Distanz schaffen, denn "il silenzio l'avrebbe protetta, allontanata dai rischi e ridato a lei giorni e abitudini." Die Stille würde sie beschützen, die Gefahr von ihr fernhalten und ihr die Tage und die Gewohnheiten wiedergeben." Tage und Gewohnheiten. Das erinnert an das Lieblingslied des Kindes von den Bee Gees "Oh you're a holiday..." Im aktuellen Alltag, in den aktuellen Tagen und Gewohnheiten, geht es wenig poetisch her. Meine pädagogischen Sternchen habe ich mir wütend heruntergerissen, mein Zorn ist im Moment gegen die Kunstlehrerin gerichtet. Von den Telefonaten mit meinem Ehemann und meinen Wutausbrüchen erschöpft, komme ich in das sonst so klösterlich stille Vorzimmer der Tanzschule, um das Kind abzuholen. Dort sind die anderen Mütter mit erhitzten Gesichtern am Debattieren. Ob wir uns am Freitag sehen, hängt von den Tankstellen ab, ha, wer hat das Glück, einen vollen Tank zu haben? Die Geschäfte und Supermärkte sind leer. Tatsächlich. Die Leute kauften Mehl und Bohnen, Dinge, die sie sonst nie kaufen. Es gibt keine Milch, es gibt bald auch kein Brot mehr, denn wir haben zwar jede Menge kleine Bäcker in der Umgebung, aber wenn kein Mehl und keine Hefe angeliefert wird, können sie auch kein Brot backen. "Dann essen wir halt das, was wir im Tiefkühlschrank haben", sagt eine optimistische Mutter. "Entschuldige, aber wir können doch nicht jeden Tag Huhn essen!" erwidert eine andere. Ich hoffe auf noch ein paar Tiefkühlschrank-Coming outs und überlege, ob ich unter Folter zugeben würde, dass in meinem Tiefkühlschrank noch die Zwetschken vom Vorjahr, nämlich dem wirklichen Vorjahr, sind, und dass ich auch Brot eingefroren habe, um im Notfall gedenke, meine Familie mit Brot und Zwetschkenmarmelade zu ernähren. Wenn ich mir etwas wünsche, dann meist, in einem einsamen Wald in Kanada zu leben. Was hätte ich dort in meinem Tiefkühlschrank? Es ist unangenehm, zu wissen, dass der Despar da unten leer gekauft ist und nichts Neues geliefert wird, weil die Lastwägen protestierenderweise die Straße blockieren. Und wenn wieder was geliefert wird, wieviel wird es kosten? Jetzt verstehe ich auch, wieso keine Sticker mehr kommen, die doch meine Kinder dauernd kaufen wollen. Das Album ist schon ganz verwaist. Signor Bossi fordert meinen alten Freund Silvio auf, die Regierung jetzt aber zu stürzen, andernfalls wird die Regierung der Lombardei, geführt von einem Parteikollegen Silvios gestürzt. Mir fehlt Silvio. Früher war alles so surreal. Und man dachte immer, dass es nur besser werden kann. Aber Silvio will Monti nicht stürzen. Und Bossi sagt, Silvio ist "una mezza cartuccia". Was ist das jetzt wieder? Eine halbe Tintenpatrone? Halb ist auf jeden Fall schon ein Kompliment. Ein Viertel hätte auch gereicht. In meinem kanadischen Wald würde ich Poesie verfassen. Auf meinem süditalienischen Hügel mache ich mir Sorgen.

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