Dienstag, 17. Januar 2012

Papa, mi sono fidanzato!

Der Rallyefahrer, der mit 12 Jahren zum Latin Lover mutiert ist, verkündet vor ein paar Tagen beim Abendessen lächelnd. "Papa, ich habe mich verlobt!"
Erst denke ich, wieso er das dem Papa sagt, und nicht mir, der liebenden, immer interessierten Mutter. Dann fällt mir ein, dass der Papa täglich fragt, wie es den Verlobten geht. Bis jetzt war die Antwort grummelig stets:"Ich habe keine Verlobten." MM und der Rallyefahrer tauschen irgendwelche Infos auf Latin Lover Art und ich höre mich sagen: "Weißt du, dass man, um verlobt zu sein, auch miteinander reden muss?" "Sicher!" grinst der Rallyefahrer. Später denke ich, ich bin grausam. Ich hätte auch sagen können: "Das freut mich für dich, liebes Kind. Ich gratuliere dir!"

Immerhin frage ich nach ein paar Tagen nach: "Na, bist du noch verlobt?" Der Rallyefahrer antwortet eifrig: "Komisch, seit ich verlobt bin, sehe ich sie nicht mehr, sie ist wie vom Erdboden verschluckt!"
Außerdem möchte er bitte Flöte üben und ärgert sich über sich selbst, weil er "Montagne verdi" nicht gut spielen kann. Mir ist das zutiefst suspekt. Der einzige Ehrgeiz dieses Kindes im Körper eines Heranwachsenden lag bis vor kurzem ausschließlich darin, ein höheres Niveau in einem Video-Spiel zu erreichen, oder einen tollen Stecken zu haben, um als Van Helsing gegen Heerscharen erfundener Feinde zu kämpfen.

Sein großer Bruder hingegen, der irgendwann vibrierend mitteilte, dass er es kaum erwarten könne, sich zu verlieben, fühlt sich häßlich. "Ich gefalle den Mädchen nicht."

Einmal, als wir nach dem Break Dance aus der Tanzschule kamen, war Elisa, damals des Rallyefahrers Bankkollegin in der Klasse, auf dem Weg in die Tanzschule. Sie und der große Sohn stießen auf dem Gehweg fast zusammen und sie blickte von unten zu ihm hoch. Sie lächelte und senkte gleich den Blick wieder. Meinen Sohn sah ich nur von hinten, aber die elektrisch geladene Luft erreichte mich.

Sehr viel früher in meinem Leben, als ich mein Geld noch nicht für Jazz Pants Hosen für Neunjährige und Stickers für das Unesco-Welterbe Sammelalbum ausgab, sondern für einen wirklichen Therapeuten, sagte dieser, nachdem ich ihm von einer verunglückten Liebesnacht berichtet hatte: "Du hast also mit ihm geredet, anstatt mit ihm zu schlafen?" Er war sichtlich entsetzt. Er war auch bioenergetisch ausgebildet.

Viele Jahre lang habe ich gelaubt, damals einen unverzeihlichen Fehler begangen zu haben. Typisch: Reden und nicht Handeln! (Im konkreten Fall glaube ich allerdings ohnehin, nichts verpasst zu haben.)

Das, was ich allerdings in diesen langen Jahren begriffen habe, ist: Ich bin halt so. Ja, so war das. Ich hätte lieber mit dem bioenergetischen Therapeuten geschlafen, aber das tut man in einer Therapie nicht.

Ich finde, dass Verlobte miteinander reden sollten, aber der Rallyefahrer sieht das vielleicht anders und wenn ich etwas gelernt habe, mit oder ohne Therapeuten, dann das: Das ist ok. (Falls ich es vergessen solltes, wer erinnert mich daran?)

Donnerstag, 12. Januar 2012

Nicht nur, aber auch

Ich gehe mit den Kindern ins Kino: Sherlock Holmes. Sherlock Holmes liebt Watson, Watson liebt aber auch Sherlock Holmes. Er weiß es nur nicht. Meine Kinder auch nicht. Ich schon. Guy Ritchie auch.

Schon seit Tagen scheint die Sonne. Ist das passend?

Gestern stand noch die dicke Sau beim Nachbarn. Die, die so schön grunzte. Heute ist sie weg. Da fehlen ein paar Schweine bei den Nachbarn. Dafür haben sie ein paar Würste reifen.

Ich koche Kaffee.

Ich bin extrem fleißig.

Ich habe mich seit zwei Tagen nicht über die Kinder aufgeregt.

Ich habe Angst, dass ich alt werde und ein Kreuzzeichen schlage.

In der Nacht träume ich, dass mich ein Monster fest unter den Armen kitzelt. Ich will "Mama!" schreien, aber ich gurgle nur. Das Monster ist die Halloween-Maske vom großen Sohn. Darüber bin ich erleichtert, als ich von meinen Schreiversuchen aufwache.

Dass ich mich nicht aufrege, macht mir auch Angst.

Das Meer ist sehr blau und wir sehen jeden Tag bis zum Stretto di Messina und auch Stromboli plus zwei kleine Inseln. Das heißt, dass es kalt ist. Ist die Sicht immer nur dann klar, wenn es kalt ist?

Der Rallyefahrer sagt: "Ich bin ein Latin Lover!" und grinst. Er trägt jetzt die Hosen so, dass sie aussehen, als hätte er vergessen, sie hochzuziehen. Im Kino ist ein dicker Junge, der die Hosen ebenfalls so trägt, man sieht seine beginnenden Arschbacken. Der Rallyefahrer und ich schauen uns an. Gemein sage ich: "So ist das bei dir auch." "Nein", sagt er gelassen, "ich habe eine Unterhose."

Alle tanzen, nur ich nicht.

Früher wollte ich nach so manchem Kinobesuch aus dem Klofenster eines Cafès in ein anderes Leben flüchten. Heute lache ich mich über Steve Martin kaputt.
Und Sherlock Holmes hat dieselben Verkleidungsmethoden wie Steve Martin als rosaroter Panther. Er tritt als Tapete auf. Danke Guy Ritchie. Nach diesem Film fühle ich mich weniger alt.

Sonntag, 25. Dezember 2011

Die Weihnachtshexe

Der Umstand, dass meine Mutter in der Kirche immer sehr laut gesungen hat und ich mich zu Tode schämte, hat sicher dazu beigetragen, dass ich mich heute als Atheistin bezeichne, dass unsere Kinder kein Sakrament empfangen haben und im erzkatholischen Süditalien vom Religionsunterricht abgemeldet sind. Ich glaube, die Schule hält uns für Zeugen Jehovas, alles andere ist irgendwie unvorstellbar.
Heuer feiern wir erstmals den Heiligen Abend in meiner winzigen Wohnung in der großen Stadt. Und ich habe einen Christbaum, den MM und die Kinder wahnsinnig schnell wahnsinnig hübsch aufgeputzt haben. Da ich mich ja nichts um Weihnachten schere, habe ich manchmal Zeit zu denken, dass unser Leben vor Weihnachten immer ein wenig schwierig wird und dass das an diese Geschichte erinnert, in der eine Frau ein Kind in einem Stall zur Welt bringt, weil sie kein Hotelzimmer gefunden hat. Anschließend muss ich an T.C. Boyles apokalyptischen Roman "America" denken.

Meine Mutter und meine Geschwister kommen, um an meinen Baum zu singen. Meine Mutter hat sogar an das Liederbuch gedacht. Meine Geschwister erinnern sich immer besser an die Texte, die haben in der Volksschule noch nicht so viele verschiedene Dinge lernen müssen. Ich stehe neben meiner Mutter und es geht dem Höhepunkt entgegen: Stille Nacht. Ich singe wirklich gerne. Meine Mutter dreht sich um und sagt: Sing nicht so hoch, so hoch kann ich nicht singen. Ich singe weiter, ein zufriedenes Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. In der Volksschule hat die Singlehrerin gesagt, ich bin unmusikalisch und ich habe geweint. Meine Mutter verstummt. Ich singe immer weiter. Ich bin gemein. Oh wie lacht.

Dienstag, 6. Dezember 2011

Eine Ehe

Die kleinen Bäume haben rote und orange Blätter bekommen und der Hügel gegenüber ist bunt gepunktet. Nach Monaten regnet es wieder und ich versuche zu trotzen und die Wäsche in der Sonne aufzuhängen, obwohl es klar ist, dass diese dunklen Wolken am Himmel nicht nur zum Spaß da sind. Spaß gibt es überhaupt wenig, seit wir Mario Monti und nicht mehr Silvio haben. Mit Silvio war es immerhin surreal, mit Monti ist es ernst. Eine neue Ministerin weint, als sie ihr Sparprogramm vorträgt. Soll mir das sympathisch sein?

Ein paar hundert Meter unterhalb unseres Hauses, auf dessen Dach ich die vielen Socken aufhänge, bewegt sich etwas in den sauber aufgereihten Weinstöcken. Ich sehe nicht mehr so gut, aber die runden Formen lassen auf die Frau des Nachbarn schließen, der vor ein paar Wochen im stolzen Alter von 91 Jahren gestorben ist.
Seine abenteuerlichen Autofahrten habe ich hier bereits beschrieben, er hat sie alle überlebt , was er nicht überlebt hat, war vermutlich ein Wechsel seiner Gewohnheiten, seines Tagesablaufs. Losardo war ein zähes Männchen mit einem Schnurrbart, curvo, wie man auf italienisch sagt, ein wenig krumm. Als seltsam wurde er uns gleich beschrieben. Er war viele Jahre lang in Argentinien gewesen, wie viele Süditaliener, wie der Nonno von MM zum Beispiel. Dann kam er zurück, da muss er schon sechzig gewesen sein. Seine Frau, so erzählten die anderen Nachbarn, sei jünger ale er, was irgendwie gleich an etwas Verruchtes denken ließ, an feiste Schenkel über den dünnen Altmännerbeinen. Aber wenn einer über Neunzig ist, kann seine Frau leicht jünger sein und dabei auch schon Mitte siebzig.
Wenn man den beiden auf ihrem uralten knatternden Traktor begegnete, ließ man die Hoffnung fahren, den Bus zu erreichen oder die Kinder rechtzeitig von der Schule abzuholen. Im Schritttempo tuckerte der Traktor die enge Straße hoch, hinter der Abgaswolke eine kleine Rauchfahne aus der Zigarette des Männleins. Hupen half nichts, wer hörte einen schon in diesem Karacho und bei dieser Taubheit. Und wenn er mit den anderen Nachbarn möglicherweise nicht gut befreundet war, so grüßte er uns doch immer mit einer kreisförmigen Begwegung seines Arms und einem Blick zum Himmel. Wenn man gerade den Garten goss, so konnte das bedeuten: was, du gießt? Es ist viel zu heiß. Oder: ja bei dieser Hitze muss man gießen. Oder aber: wozu gießen, es regnet ohnehin bald, siehst du das nicht?
Dieselbe kreisförmige Bewegung mit der Zigarette in der Hand ohne Gartenschlauch unsererseits konnte als: jaja, nur keine Eile interpretiert werden, oder als: Mann, heute gibt es aber viel zu tun. Ich glaube, die Tendenz des Grußes hing allein von der Stimmung des Begrüßten ab.
Vor seinem Tod verbrachte er ein paar Tage im Spital. Meine Nachbarin Teresa hat ihn dort gepflegt und war danach mit den Nerven ganz am Ende: Er hat mich geschlagen, Dattilografa, kannst du dir das vorstellen?

Seine Frau, die junge, die Mitte siebzig ist, erinnert an einen etwas verschrumpelten Apfel, rot und gelb, wenn man ihn schält, ist er süß. Sie saß auf dem Traktor neben ihm, oberhalb von ihm. Morgens kamen sie auf ihr Grundstück und abends fuhren sie in ihr Haus zurück, das etwas oberhalb dieses Stück Lands mit den Weinreihen liegt. Letzten Sommer haben sie Kürbisse angebaut, die MM neugierig ausgespäht hat, hinter den Schilfrohrpflanzungen. Und dann hat MM auch begonnen Kürbisse anzubauen. Wochenlang sprach er über nichts anderes als über Kürbisse, so wie andere von Smartphones sprechen. Ich glaube, die Kollegen, mit denen er in der Mensa isst, waren froh, als die Kürbiszeit mit einigen Exemplaren zu Ende ging, die das hochgesteckte Ziel nicht erreicht hatten. Aber die Kürbispflanzung des Nachbarn erstrahlte jeden Morgen mit ihren gelben Blüten.
Wenn Mann und Frau auf dem Traktor fuhren und man hinter ihnen alle Zeit der Welt hatte, die dicken Waden der Frau zu betrachten, die unter einer Art Wanderkniebundhose hervorlugten, dann kam einem unvermeidelich Hubert von Goiserns Song von den dicken Wadeln in den Sinn. "Ich glaube, die beiden haben es gut", sagte ich einmal zu meinen pubertierenden Kindern, die sich vor lauter Lachen nicht mehr erfingen, weil sie sich vorstellten, wie die dicke Frau das Männchen täglich zu Boden schleudert. So stellen sie es sich eben vor: es gut haben.
Und eines Tages im Sommer fiel er zu Boden. Er stürzte oft, erzählte die Frau später MM, und hatte ein Hämatom auf dem Kopf, worauf die Frau beschloss, ihn ins Spital zu bringen. Nach kurzem wurde er wieder entlassen und bereits auf dem Heimweg meldete er Hunger an. Die Frau sagte, sie werde ihm etwas kochen und als die Pasta fertig war, hatte der Mann keinen Hunger mehr, im Gegenteil, er musste erbrechen. Bald fanden sich die beiden wieder im Krankenhaus ein und es wurde festgestellt, dass der Magen des Mannes perforiert war. Ich weiß nicht, ob unser Körper sich einfach zu gegebener Zeit auflöst oder ob es die drei bis vier Flaschen Vecchia Romagna waren, die der Mann angeblich pro Woche konsumierte. Vecchia Romagna ist ein alkoholisches Getränk, ich glaube etwas Cognak Ähnliches. Wegen seines perforierten Magens sollte der Mann in das Krankenhaus in die größere Statdt gebracht werden. Die Frau organisierte die Reise für sich selbst, denn sie fährt nicht Auto. Kinder haben die beiden keine. Als die Frau sich vorbereitet hatte, bekam sie einen Anruf, der besagte, dass die Ambulanz bereits wieder auf dem Rückweg war, denn der Mann hätte im Krankenwagen derart rebelliert, dass er zurück gebracht werden musste. Der Mann wollte nicht ins Krankenhaus in die Stadt, der Mann wollte nach Hause. Vermutlich wollte er Vecchia Romagna trinken und seine Ruhe haben. Deshalb war er wahrscheinlich auch delirierend aggressiv zu Teresa.
Wenig später war er tot.

An einem Sonntag Morgen höre ich eine sanfte Frauenstimme draußen mit MM sprechen. Ich denke, MM wird mich gleich rufen, aber nichts geschieht. Später frage ich ihn, wer da war. Die Witwe, ohne Traktor geht sie schneller direkt an unserem Haus vorbei. Sie hat MM erzählt, wie die Dinge vor sich gegangen waren. Und sie erzählte, dass sie es war, die ihrem Mann geraten hatte, mit dem alten Traktor zu fahren, nachdem die Polzei seinen Führerschein nicht mehr verlängert hatte. (Hallelujah!)Er mochte den Traktor nicht, denn er konnte die Gänge nicht einlegen. "Lass mich das machen!" hatte die Frau gesagt und dann sagte er ihr jeweils, wann zu schalten war. "Sei una maestra!" hat er dann zu ihr gesagt. Du bist eine Meisterin.

Dienstag, 29. November 2011

wie man wegen 28 euro 88 in tilt kommen kann

Default. Höre ich jetzt immer im Radio.Ist das der Ausgangspunkt? Kann mich jemand dorthin versetzen? Es handelt sich aber auch um Bankrott, komisch, nicht? Ich möchte meinen Mann anrufen und ihn bitten, mir zu sagen, dass ich toll bin und dass er mich liebt. Ich möchte mein Freundin anrufen und sie bitten, mich übers Telefon an der Hand zu halten. Aber ich weiß, es ist kindisch, denn was sie mir sagen, kann ich mir selbst auch sagen. Ich suche seit einem halben Tag eine rechnung über 28 Euro und 88 Cent. Sie ist nämlich wieder aufgetaucht, die Rechnung, auf der ich schon unter Anleitung meiner mit mir ausmistenden Freundin geschrieben habe: muss ich das bezahlen? Ist das schon bezahlt?
Ich weiß es noch immer nicht. Aber auf der Suche nach der Antwort sind immer neue Zettel aufgetaucht, nicht eingeordnete Rechnungen aus dem Jahre Schnee, Mäppchen, Hüllen, Adventkalender, Kontoauszüge, Versicherungsverträge, Fahrscheine, Flugbilettes, Kuverts mit Rechnungen,Blocks mit Mensatickets, Einkaufslisten, Gebrauchsanleitungen. Oh mein Gott. Wie kann man nur so schlampig sein.
Ich habe bereits mit der Institution, die das Geld eintreibt, telefoniert. Aber da die Rechnung nicht auf mich ausgestellt ist, kann ich nicht erfahren, ob die Rechnung bezahlt wurde. Zu der Frau, die die Rechnung eigentlich bezahlen müsste, die Vorbesitzerin unseres Hauses, möchte ich nicht gehen, denn ich glaube, danach bräuchte ich eine Stunde mit einem Gesprächstherapeuten, die mich mehr als 28 Euro 88 kostet. Mein Kopf hat sich eckig geformt, ich spüre das ganz genau. Ich habe einen Kopf wie Sponge-Bob, nur ist meiner weiß und ganz unten steht, bitte in diese Zeile nichts schreiben.
Es geht um die Müllabfuhr aus dem Jahre 2009. Seufz.
Ich rufe es in die Welt hinaus: Leute, ordnet eure Sachen, hier, jetzt, sofort. Wartet nicht eine Sekunde länger, wenn ihr nicht wollt, dass eure Schultern schmerzen, es in eurem eckigen Kopf dröhnt und ich wegen der vergleichsweise geringen Summe von 28 Euro 88 weinen möchtet.
Ich möchte auch nicht weinen, weil ich diese Summe nicht bezahlen kann, sondern weil ich nicht weiß, ob ich sie bereits bezahlt habe, andernfalls, warum ich sie nicht bezahlt habe und vor allem wo die Originalrechnung ist, denn bei der aktuellen handelt es sich bereits um eine Mahnung. Sponge-Bob-Ich hat eine tiefe Falte quer über den ganzen schachtelförmigen Schädel.
Tief durchatmen.
Geh an die frische Luft, sagt die Stimme, die zu der gehört, die ich bis heute Morgen war. Geh an die frische Luft. Und kauf einen Schredder. Und dann zurück an den Start.

Montag, 21. November 2011

Mit den Kids im Kino

Unter Schock. Schlechter Tag. Schlechtester Tag. Am Rande der Depression. Das überzogene Konto zieht die Mundwinkel bis zu den Schuhsohlen.
Und das wäre alles weniger schlimm, wenn ich nicht gestern diesen entsetzlichen Schmarrn gesehen hätte.
"Ich bin die einzige Alte", flüstere ich dem Rallyefahrer zu. "Nein," sagt er, da ist noch eine Dicke am Rand unserer Reihe."
Abgesehen von der Dicken und mir sind alle zwischen 12 und zwanzig (nur das Kind ist zu klein), vor allem Mädchen mit langen Haaren und dann noch ein paar Jungs mit gezupften Augenbrauen.

Ich bin in "Breaking Dawn" gelandet, dem brandneuen Teil der "Twilight Saga". Bella heiratet Edward, den Vampir.
Nach drei Minuten beglückwünsche ich mich zu meinem Stoizismus. MM hätte sich bereits aus dem Kino geschlichen. Aber der ist in weiser Voraussicht nicht mitgekommen.
Die Mädchen vor mir unterdrücken spitze Schreie, als Bella auftritt und halten sich an den Händen.
Warum will Bella unbedingt den Vampir heiraten und ganz stark sein und alles aushalten? Sie wird das schaffen, verspricht sie. Sie ist 18.
Sie tut sich schwer in den hochhackigen Hochzeitsschuhen zu gehen und schlüpft erleichtert in ihre flachen Tennisschuhe von All Star.
Edward taucht auf. Ihr Gesichtsausdruck möchte von unendlicher zärtlicher Liebe sprechen. Ich bekomme Beklemmungen, weil ich es nicht verstehen kann. Was hat der Mann Liebenswertes? Er ist Vampir und schaut so aus, als hätte er permanente Sorgen und/oder Zahnschmerzen.
Gut, trotz blutbefleckter Alpträume heiratet sie ihn (sie hat während des Gangs zum Altar ein Haar im Mundwinkel, was mich fast rasend macht. Hat das während der Aufnahmen niemand gesehen? Ist das Sinnbild für ihr verklärtes Inneres, dem solche Äußerlichkeiten nichts anhaben können?). Ich denke, meine Jungs werden spätestens in der Pause gehen wollen. Das Kind ist fasziniert, weil ihm Hochzeiten gefallen. Die ganze Action dauert unendlich. Endlich tauchen die Wölfe auf, der einzige Grund, warum ich nicht zu weinen beginne, denn das sind alles hübsche Jungs, Indianer oder zumindest sehen sie ao aus und als Wölfe grummeln sie dann böse vor sich hin und fletschen die Zähne. Außerdem gibt es viele tiefe Wälder zu sehen und in einem steht das schöne, warm erleuchtete Haus der Vampire mit viel Holz und vielen Büchern.
Möglicherweise handelt es sich um einen Film über Magersucht, denn Bella muss nach vollzogenem ehelichen Beischlaf (musste sie deshalb heiraten? Nicht der einzige Punkt, in dem der Film an das 18. Jahrhundert erinnert) bald erbrechen, ist binnen zwei Wochen wahnsinnig schwanger (mit einem Dämon) und wird ganz ganz, ja fast schon geschmacklos dünn. Das ist ihr aber egal, weil sie ist ja sonst so stark und will natürlich das Kind behalten.
Im letzten Drittel des Films wird das Kind aus dem Bauch geholt (dieser wird nicht wieder zugenäht, und dann wundert man sich, dass Bella stirbt) und Bella stirbt. Edward, der Vampir, macht eine etwa zehnminütige Herzmassage, die auch kräftigeren Menschen die Eingeweide zerstört hätte und injiziert ihr schließlich sein Gift. Dazwischen heulen zum Glück die Wölfe.
Bella setzt sich innerlich wieder zusammen, man sieht Makroaufnahmen oder zumindest Als-Ob-Makroaufnahmen, in denen Blut herumflitzt und ich denke sehnsüchtig an CSI. Bella wird wieder fleischig und immer schöner.
Zum Schluss schlägt sie die Augen auf, welche rot geworden sind, wie die der Vampire.
Wir warten auf den zweiten Teil.

Ich möchte mir sehr gerne einen Orden für besonders vorbildliche Mutterschaft verleihen, weil ich mir diesen Film mit meinen Kindern (die übrigens zu meiner Überraschung nicht das Kino verlassen wollten) angesehen habe.

Zu Hause (oh Glück, ich durfte aus dem Kino nach Hause kommen!) sage ich zu MM, dass Jane Austens "Stolz und Vorurteil" ein feministisches Frühwerk gegen diese Scheiße ist. Und plopp, eine minimale Recherche im Internet bringt es ans Tageslicht: Die Autorin der Twilight-Saga, Stephanie Meyer ist eine Verehrerin von Jane Austen.

Ich hoffe nun sehr, dass das Kind seine Fragerei zum Thema Geburt einstellt. Diese blutige Sequenz ist nicht nur für Neunjährige verstörend. Vielleicht wurde Bella ja auch schnell zugenäht und ich habe gerade aus Grausen gerade nicht hingeschaut.

Aber im Internet zu diesem Schwachsinn zu recherchieren fettet mein onto auch nicht auf und wenn meine Laune nicht bald besser wird, befürchte ich, dass ich mich wie Jacob in einen zähnefletschenden Wolf verwandeln werde. Und wer wird mein erstes Opfer sein?

Donnerstag, 17. November 2011

Der geheime Freund

Da ich zur Zeit nicht aus Gründen der Arbeit an meinen Schreibtisch gefesselt bin, mache ich die unglaublichsten Dinge: Ich gehe auf die Gemeinde und gebe dem Bürgermeister (zumindest seinem Büro) bekannt, dass das Kind keinen Fisch ist und bitte am Freitag in der Schulmensa was anderes bekommen soll, was, ist nicht so wichtig. Ich gebe das Formular zur Volksbefragung ab. Ich bezahle die Rechnung der Müllabfuhr. Ja, tatsächlich. Keine Mahnung. Ich gebe die Bons für die Gratisschulbücher in der kleinen Buchhandlung ab. Ich betreibe small talk mit allen Nachbarn. Ich bin nicht beleidigt, als der alte Herr, der mit seinem Leinensack und seinem Stock auf der Straße wandert, auf meine Frage: "Wo gehen sie denn hin?" mit "Wer SIND sie?" antwortet. "Ich bin die, die ihre Kinder immer zum Schulbus bringt, ich wohne da unten." Aha.
Das Leben ist so fröhlich geworden, seit wir dann doch recht unspektakulär "Bye bye Silvio" gesungen haben.
Ich ordne die Rechnungen vom E-Werk ein und lösche tausende E-mails. Das verringert zwar nicht den materiellen Mist, aber angeblich befreit es den Geist. Und mein Geist fühlt sich schon beängstigend frei an.
Gestern abend sage ich beim Essen: "Ich hatte heute einen wirklich guten Tag, ich habe meinen Drucker nach mehr als einem Jahr zum Funktionieren gebracht und den Impfpass vom Hund gefunden." "Ich auch!" ruft das Kind sofort. "Ich war super in der Schule und auch super in der Tanzschule!" Dem Rallyefahrer bleibt die Hand mit der Karotte, die er gerade in den Mund schieben wollte, in der Luft stehen, er wirft seinem großen Bruder einen Blick zu, der sagen will: "Super in der Schule? Was redet der da? Hoffentlich fragt mich jetzt keiner, ob ich auch super in der Schule war." MM und ich schauen uns auch atemlos an. Ist das Kind übergeschnappt? Das Kind ist NIE super in der Schule. Die Lehrerin beschwert sich über das Kind. Das Kind stopft vergnügt Auberginenomelett in den Mund. Vielleicht ist seine Überzeugung so stark, dass eines Tages auch die Lehrerin glaubt, dass er super ist? Alle beginnen vorsichtig wieder zu atmen.

Die Nächte sind lang und sternenklar. Ich möchte nicht mehr auf dem Dach liegen und mir von einem nicht näher definierten Prinzen durchs Haar streichen lassen. Gestern hat MM zum ersten Mal eingeheizt und das war mir weitaus sympathischer als der Prinz da draußen auf seinem Pferd, der sicher eine ganz kalte Nase hat. Obwohl ich mir natürlich immer noch wünsche, dass der platonische Verehrer mich anruft und sagt: "WIE machst du das alles?!", bin ich mit dem Wünschen sehr vorsichtig geworden. Ich habe nämlich eine sms bekommen. Ich habe schon gemerkt, dass eine mir unbekannte Nummer versucht, mich zu erreichen, aber ich habe zu Hause keinen Mobilfunkempfang, was gut und schlecht und auf jeden Fall gewöhnungsbedürftig ist, und ich empfange sms, wenn ich die Kinder zum Schulbus bringe. Und da schreibt die unbekannte Nummer: "Wo bist du gestern morgen hingefahren, mit dem Auto deines Mannes?" Dann kommt ein komisches Wort mit vielen "o"s und "c"s, ich interpretiere es als unschön. Dann schreibt er: Buona notte, amis. Na zumindest das ist nett.
Erst bin ich erschrocken. Wo bin ich denn hingefahren mit dem Auto meines Mannes? Als ich mir selbst "nirgendwohin" antworte, kommt mir der Verdacht, dass es sich um einen Scherz handelt. Jungs im Schulbus, die Tanten anrufen. Das haben wir auch gemacht: "Guten Tag, sie haben 1000 Rollen Klopapier gewonnen, hahahaha," klick.
Dann denke ich, jemand hat die Nummer falsch eingegeben. Amis ist sicher amico segreto, der geheime Freund. Ich möchte ihn nicht, nein danke. Das ist die Kehrseite der Medaille, die Rückseite der Verehrung. Das Ansprüche erheben.
Ich beneide sie nicht, die heimliche Geliebte, die sich rechtfertigen muss, wenn sie das Auto ihres Mannes benutzt. Hoffentlich sagt er ihr wenigstens, wie wahnsinnig großartig sie ist, und wie toll sie alles macht.