Dienstag, 20. April 2010

ausrasten

Es gibt doch dieses wissenschaftlich unerklärte Phänomen, dass wenn ein Mensch gähnt, die anderen Menschen auch gähnen müssen. Zu diesem gesellt sich ein neues Phänomen: wenn ein Mensch im öffentlichen Raum zu seinem Mobiltelefon greift, müssen das die anderen auch tun. Vielleicht brummt, vibriert,läutet ja doch ihr Handy? Wenn einer laut telefoniert, wollen das alle anderen auch tun. Sie sind mindestens genauso wichtig, geliebt, gebraucht.
Eine Frau teilt über ihr Mobiltelefon mit, dass sie schon nach Hause gehe und das Kind selbst abholen könne. Die Person am anderen Ende der Leitung (sagt man das heute noch?) könne sich "ausrasten". Es muss sich also um die Oma handeln (eine weibliche Stimme höre ich entfernt), denn die Babysitterin will sich ja nicht ausrasten, die will ja Geld verdienen. Schönes Wort: ausrasten. Ich sehe die Oma, die schon mit dem Hut vor dem Spiegel stand, sich wieder entkleiden, die Schuhe mit einem Seufzer ausziehen und die Füße in den Nylonstrumpfhosen auf die Sofalehne legen. Ausrasten, von den anstrangenden Tätigkeiten. Rasten, inne halten. Sich ausrasten. Nicht: ausrasten. Das, was ich täglich vermeide. Ich raste nicht aus. Ich habe mich unter Kontrolle. Wie kann das ausschauen, ausrasten? Ich sehe meine Zunge anschwellen und aus dem Mund heraus quellen, die Haare stehen mir zu Berge und ich schüttle die nächstbeste Person, hoffentlich nicht die falsche. Möglicherweise schlage ich mit der Hand auf die Tischplatte, das gefällt mir ausgezeichnet, das mache ich auch, wenn mir nicht die Augen hervorquellen, das mache ich ab und zu auch als ausrastende Mutter.
Eigentlich würde ich ja sagen, auszucken und nicht ausrasten. "Gleich zuck ich aus" geht mir leichter von den Lippen. Aber ich muss mich beherrschen, denn wenn ich wirklich auszucken oder ausrasten sollte, dann werde ich mich benehmen, als litte ich unter dem Tourette-Syndrom. Das passiert mir auch manchmal als Mutter und ich hoffe, dass meine Kinder nicht wissen und es nie erfahren werden, was "fottuto" heißt. Sonst tu ich ja immer sehr heilig und wenn mich meine Kinder zum Thema Mittelfinger befragen, dann sage ich: ehrlich gesagt, ich weiß nicht so recht, wo man diesen Finger hinstecken soll, aber den Leuten, denen man ihn zeigt, will man doch nichts wohin stecken, also besser, man verwendet dieses Zeichen gar nicht.

Während ich hier mit dem Zorn hadere, schreibt MM, dass am Monatsende die Fenster kommen und am Telefon erzählt er von Waschbecken und Kloschüsseln. Die Nachbarin ruft ihn an, weil sie ihn schon so lange nicht gesehen hat, was er sehr nett findet. Naja.

Wofür arbeiten wir denn heuer?, fragt ein Kollege, der weiß, dass ich letztes Jahr für den Holzboden gearbeitet habe. Der Holzboden ist leider gar nicht gesichert, denn letztes Jahr wusste ich noch nicht, dass ich eigentlich für den Kloabfluss und die Abdichtungen an den Außenmauern arbeite und in Wirklichkeit fließt das Geld, das ich jetzt verdiene, schlicht und ergreifend in das neue Gebiss von Frau Obermaurer.

Die fehlen mir gar nicht so, die Maurerjungs, aber an den gehenden Mann denke ich oft. Da ich hier mehr Zeitung lese, bin ich überzeugt, dass er einen Selbstversuch macht, den er in einem renommierten Blatt veröffentlichen wird. "Wie ich 10000km gegangen bin, ohne dass mich je jemand angesprochen hat." Oder wie er sich täglich vergiftet oder wie er 2000 Plastiktüten aufgehoben hat, ohne das Müllproblem zu lösen. Es erscheint mir sehr dringend, mit ihm in Kontakt zu treten.

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