Dienstag, 6. April 2010

Von Tunesien nach Mitteleuropa

MM, der nicht gut auf den Obermaurer zu sprechen ist, hat doch eine geheime Freude: unser Haus ist weiß geworden. Das ist aber nur der Feinverputz, keine Farbe. Auf diese Tatsache weist er mich mehrmals täglich hin, bis ich es endlich selbst sehe und mir der Mund offen stehen bleibt: sieht aus wie in Tunesien - weißes Haus im Sonnenschein, Flachdach, Palme davor, weht im Wind. Das einzig störende ist der unrenovierte Teil davor, eine lähmende Ziegelwand. Die muss weg! Obwohl wir dem Obermaurer keinen Centesimo mehr gönnen, messen wir sofort die Wand aus und rechnen. Das werden wir uns leisten!

Immerhin kehre ich übergangsweise in meine alte Heimat zurück, um zu arbeiten. In Italien frage ich mich regelmäßig, wieso ich von hier weggegangen bin und weiß nie eine Antwort. Sobald ich aus dem Zug steige und in ein Taxi ist mir alles klar. Ein Grund ist die Sprache, kann man das Radio bitte ausmachen? Eine Stunde geht alles gut, das ist die, in der ich zu Hause bin und dusche. Dann begebe ich mich wieder in öffentliche Verkehrmittel. Ich denke an New York, wo ich vor vielen Jahren war und feststellen musste, dass überdurchschnittlich viele Menschen mit sich selbst sprechen. Aber das war, nachdem die psychiatrischen Anstalten geschlossen wurden. Und New York ist New York.

Nach meiner Arbeit stürze ich wieder auf eine Straße, in der mehr als 70 % der Passanten betrunken sind oder unter Drogen stehen oder es bis vor kurzem taten. Ich gehe in einen Supermarkt und suche eine Flasche Rotwein mit mehr als 13 Prozent. Im Autobus setze ich mich neben einen unglaublich dicken Mann. Er sieht mich erstaunt von der Seite an und murmelt etwas unverständliches. Habe ich mich unabsichtlich auf seine dicken Schenkel gesetzt? Ist er überrascht, dass es jemand wagt, sich neben ihn zu quetschen? Mein Gepäck ist so schwer, dass ich nicht im Traum daran denke, meinen halben Sitzplatz wieder herzugeben. Während der Fahrt murmelt der Mann mehrmals: "Oh mein Gott, mein Gott!" Mir ist er sympathisch, da er keinerlei Alkoholgeruch von sich gibt. Er riecht nach Bosna, das war vor vielen Jahren eine lange Wurst in einem Hotdogbrot, mit Zwiebeln und Senf bereichert. Ob es das noch gibt? Als er aussteigen will, sagt er: "Entschuldigung!" Er kennt dieses Wort! Er versöhnt mich mit der Welt. In seiner Hosentasche steckt eine kleine Flasche Apfelsaft.

Ich denke an die Süditaliener, die mir meistens auf die Nerven gehen, an die orientierungslosen, aufgeregten Studenten, an die beiden etwa zwanzigjährigen Jungs, die gestern im Zug ihre Fingerknöchel krachen ließen und alle halben Stunden ins Mobiltelefon hauchten: "Ma(mma)? Tutto apposto, ich bin kurz vor Salerno, kurz vor Napoli, kurz vor Aversa, kurz vor Roma, jetzt in Roma, jetzt steig ich aus." Sie alle werden gerettet, wenn sie gerettet werden, durch eine Mamma oder eine Nonna, die zu Ostern Pastiera macht, die ihre Familie zu Ostern durchschnittlich drei Stunden beim Essen hält, wie ich eine Statistik entnehme, die ihnen dorthin, wo sie studieren oder arbeiten, nachfährt mit einer Schachtel voller Würste und Sugo und einer Kühltasche mit dem frischgeschlachteten Pollo und dem Sedano und den Eiern von den Galline. Durch das Fernsehen soll uns der letzte Funken Verstand geraubt werden und mir ist klar, dass nicht viele Fernsehabstinenzler sein können, wie ich. Aber gegen den Grande Fratello gibt es die Bastion der Mütter und Großmütter, die dem Nachwuchs mit frittierten Ciambelle und notfalls einfach mit Nutellabroten nachläuft und das geben, was beim "big brother" la casa ist, ein zu Hause.

Dieses zu Hause, das in den großen Städten zu klein, zu unwirtlich, zu wenig aufregend ist, das die Jungen auf die Straßen treibt, das die arbeitenden Menschen nicht mehr zum Essen beherbergt und die öffentlichen Verkehrsmittel zu unseren Tischen und Arbeitsplätzen werden lässt. Heute morgen vermittelte eine junge Frau im Autobus neben mir erst (fast) eine Wohnung mit zwei Zimmern und zwei Kabinetten und aß anschließend ein Schinkensandwich einer bekannten Fleischerkette. Eine andere Frau erzählte am Mobiltelefon, dass sie keine Probleme mit ihrem Stuhlgang hätte. Dabei lachte sie. Und schwankte in den gefährlichen Kurven. Bis sie sich am Haltegriff festklammern konnte.

Zwei Sätze fallen mir ein, der erste ist von Thomas Bernhard:
"Am wohlsten fühle ich mich in den Zügen, in den Fahrten zwischen den Ländern. Bin
ich in einem Land angekommen, möchte ich es eigentlich sofort wieder verlassen.
Überall das gleiche, Heuchelei, Perfidität und Stumpfsinn."
Der zweite: "Home is where my heart is". Mein Herz ist aber sicherlich in keinem öffentlichen Autobus. Nein.

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