Jemand sagt mir, es wäre besser, wenn ich in die große Stadt zurückkehren würde. Ich sei einsam in Italien. Der Mann, der das sagt, macht mir Eindruck und so also auch seine Aussage.
Ja, stimmt, einsam. Im Sinne von: Die meisten meiner gescheiten Freundinnen sind in der großen Stadt.
Ich gehe durch die Tage und denke: Vielleicht habe ich alles falsch gemacht.
Ich bin bewegt.
Ich zweifle.
Ich zweifle aber auch sehr daran, dass in der großen Stadt alles anders wäre. Ich zweifle daran, dass all die Freunde, die ich vermisse, sich mit mir beschäftigen wollten, statt sich um ihre Familie zu kümmern. Das ist jetzt so. In ein paar Jahren wird es wieder anders sein.
Ich zweifle trotzdem. Bis ich den Himmel und das Meer von Belvedere sehe. Am Sonntag in der Früh, als ich in den Supermarkt fahre, denn am Sonntag bekommen dort große Familien 20% Rabatt. Ich hab eine große Familie. Und ich gehe am Sonntag in der Früh einkaufen, ohne meine Familie, bevor die anderen Familien kommen.
Ich habe einen Kaffee und ein Cornetto intus und ein kurzes Gespräch mit der Frau in der Bar, in der es darum ging, dass das Wetter gar nicht so schlecht ist, wie angekündigt, und dass wir beide nicht wissen, wann denn dieses angekündigte schlechte Wetter eigentlich kommen soll. Wir sind verschont geblieben, sage ich.
Und dann sehe ich das Meer und es überfällt mich unerklärlich wie die Liebe. Es ist tiefblau und es liegt unter mir. Nein, ich habe keinen Fehler gemacht. Das ist für mich.
In all diesem Mist und ich meine hier: Mist, denn die Mülltrennung, die mir so sympathisch wäre, ist etwas, was ich privat betreibe, fällt mir das Lied von Rino Gaetano ein:
Er zitiert all die Scheiße, die einem im Leben passieren kann und dabei sind die unglaublichsten Sachen - der eine ist Bauer, ein anderer kehrt den Hof zusammen, ein anderer ist Spion und es gibt auch den, der seine Tante liebt und die, die in Kalabrien leben. Die, die Pensionen stehlen, die, die eine schlechtes Gedächtnis haben und die, die von einem Zug überfahren werden, sowie die, die von Liebe leben. Und der Himmel ist immer blauer. Wer auf die Mauern schreibt, wer von Millionen träumt, wer eine Strafe erhalten hat und wer die Südländer hasst, chi mangia patate, chi beve un bicchiere, ma il cielo è sempre più blu.
Der Himmel ist immer blauer.
Und zwar nicht dort, wo die anderen sind, sondern dort, wo man ist, auch wenn man so ein Handicap hat, wie die Tante zu lieben, Brillen zu tragen oder in Kalabrien zu leben.
Donnerstag, 25. Juni 2015
Dienstag, 16. Juni 2015
Sommer
Die Schulferien haben in Italien offiziell begonnen und der einzige kritische Moment des Schuljahrs, als die Ministerin für Unterricht und Forschung angekündigt hatte, es werde künftig nur noch einen Monat Ferien geben, liegt bereits vergessen zurück. Nein, Mütter und Väter, auch heuer werden die Schüler 13,5 Wochen Ferien haben und rechnet man dazu, dass die meisten seit Anfang Juni die Schule nicht mehr besuchen, 15 Wochen. Für uns sind es 14 Wochen, denn ein paar Tage kann man auch mit wenigen Mitschülern spielen, wenn man klein ist, oder die letzte Prüfung machen, wenn man größer ist. Nur mit jenen herumhängen, die nicht noch mehr Fehlstunden haben können, muss man dann nicht. Ich sehe dieser sommerlichen Unendlichkeit mit einer Mischung aus Gelassenheit und aufkeimender Panik entgegen. In den vergangenen Jahren habe ich mich gut gerüstet mit Sommercamps, Monaten, in denen der nicht richtig begriffene Stoff aufgeholt und in Mammas Büro gelernt wurde und langen Aufenthalten in der großen Stadt. Heuer ist nichts geplant. Denn man kann mit jungen Menschen, die fast 18, 16 und 13 sind, nicht mehr so leicht verreisen. Zumindest nicht als ihre Mutter. Es ist auch ein bisschen Trotz, denn der Ex-Rallyefahrer, nun Fußballer, hat letzten Sommer gesagt, er wolle nicht mehr in die große Stadt fahren. In Wirklichkeit hat es ihm dort gut gefallen, aber ich bin dennoch ein bisschen beleidigt und vielleicht ist eine Pause wirklich nicht das schlechteste.
Noch sind alle entspannt und ich bin verwundert. Sollte mein jahrelanges säuerliches Vorgeben eines Rhythmus doch etwas gefruchtet haben? Nein, kein elektronisches Gerät vor dem Mittagessen. Du kannst lesen. Welche Hausarbeit willst du verrichten, bevor du die Playstation aufdrehst?
Jetzt sage ich nichts mehr und alle zeichnen am Vormittag. Natürlich haben sie dabei Kopfhörer auf, aber sie sind immerhin nicht im Netz. Ich habe in meinem ganzen Leben nicht so viel gezeichnet wie meine Kinder an einem Tag. Nach dem Mittagessen geht es dann ins hedonistische Technikvergnügen. Und wenn dann noch Energie übrig bleibt, ans Meer. Dieser Zustand wird auch nicht ewig dauern. Denn irgendwann werden wir die Zeugnisse abholen und wenn diese positiv sind, wovon ich ausgehe, nachdem ich in den letzen Monaten laut gebellt habe, wenn Wünsche an mich heran getragen wurden, die anstatt des oder zeitlich vor dem Ausbessern des katastrophalen Halbjahrzeugnis, erfüllt werden sollten, wird man hier beginnen, einen Auto-Führerschein und einen Mofa-Führerschein zu machen.
Ich bin überhaupt verwundert, denn die Pubertät scheint etwas Intermittierendes zu sein. Der Fußballer spricht wieder. Zum Beispiel erzählt MM von einem Fall eines geschiedenen Paars, das eine Tochter hat. Die Mutter ist Veganerin und der Vater hat die Mutter verklagt, weil sie die Tochter nicht richtig ernährt. "Wie glaubt ihr, hat der Richter entschieden?" fragt MM. "Sie kommt in eine andere Familie", vermutet der Fußballer. Ich starre ihn fassungslos an. Er hat eine Stimme. Er hat das erste Mal seit zwei Jahren seinen Kopf vom Teller weggehoben. Vielleicht wünscht er es dem Mädchen, in eine andere Familie zu kommen, so wie er es sich vielleicht in den letzten zwei Jahren selbst gewünscht hat. Aber jetzt ist er 16, hat sich seine Balottelli-Frisur abschneiden lassen und lächelt manchmal.
Das Mädchen muss übrigens nach einem ausgewogenen Diätplan ernährt werden, in dem von allem etwas vorgesehen ist.
Das Kind hingegen wehrt sich, in die Pubertät einzutreten, zumindest, was meine Rolle betrifft. Seinem Vater gegenüber ist Schnauben die einzige Kommunikation, zu mir ist er sehr lieb und kindisch und erzählt mir, dass Katy Perry in ihrer Garderobe vor jedem Auftritt eine Kiste eines Biers, dessen Name ich vergessen habe, gekühlt, versteht sich, haben möchte, eine Kiste Mineralwasser, 3 Flaschen gekühlten Pinot grigio und rote und rosa Blumen. Ich bezeuge offenbar so viel Interesse (ehrlich gesagt am Pinot grigio), dass er am nächsten Tag wieder berichtet:
- Mamma, ich habe dir doch erzählt, was Katy Perry in ihrer Garderobe will, aber jetzt sag ich dir, was Miley Cyrus bestellt: 102 rote Rosen und 102 weiße Rosen.
- Was? sage ich, meinst du 200 rote und 200 weiße?
- Nein, 102.
Von einem Moment auf den anderen bekomme ich einen Anflug von dem, was man in meiner Jugend "Blutrausch" genannt hat. Eigentlich weiß ich nicht, ob einem dann das Blut in den Adern kocht, so dass einem der Hals schwillt, oder ob man im Rausch solange auf jemanden einschlägt, bis man Blut sieht. Auf jeden Fall würde ich gerne beide Sängerinnen mit dem Kopf zusammenstoßen.
- Ich finde das manisch, sage ich ungeduldig. Ich will sagen: ich finde das obszön.
- Wieso? fragt das Kind erschrocken.
- Stell dir vor, du würdest zu mir sagen, ich soll dir 102 Blumen ins Zimmer stellen, aber es müssen 102 sein.
Das kommt ihm auch komisch vor. Mein Kind weiß, dass es Leute gibt, die nichts zu essen haben, ich muss es ihm nicht sagen. Ich weiß auch, dass ich in seinem Alter Rod Stewart verehrt habe und der hat sich wahrscheinlich noch was ganz anderes als Blumen in die Garderobe stellen lassen.
Ich nehme weiter die Wäsche ab und stecke die orangen und roten Wäscheklammern in einen Sack. Das Kind trollt sich wieder, sicher Gossip lesen.
Noch sind alle entspannt und ich bin verwundert. Sollte mein jahrelanges säuerliches Vorgeben eines Rhythmus doch etwas gefruchtet haben? Nein, kein elektronisches Gerät vor dem Mittagessen. Du kannst lesen. Welche Hausarbeit willst du verrichten, bevor du die Playstation aufdrehst?
Jetzt sage ich nichts mehr und alle zeichnen am Vormittag. Natürlich haben sie dabei Kopfhörer auf, aber sie sind immerhin nicht im Netz. Ich habe in meinem ganzen Leben nicht so viel gezeichnet wie meine Kinder an einem Tag. Nach dem Mittagessen geht es dann ins hedonistische Technikvergnügen. Und wenn dann noch Energie übrig bleibt, ans Meer. Dieser Zustand wird auch nicht ewig dauern. Denn irgendwann werden wir die Zeugnisse abholen und wenn diese positiv sind, wovon ich ausgehe, nachdem ich in den letzen Monaten laut gebellt habe, wenn Wünsche an mich heran getragen wurden, die anstatt des oder zeitlich vor dem Ausbessern des katastrophalen Halbjahrzeugnis, erfüllt werden sollten, wird man hier beginnen, einen Auto-Führerschein und einen Mofa-Führerschein zu machen.
Ich bin überhaupt verwundert, denn die Pubertät scheint etwas Intermittierendes zu sein. Der Fußballer spricht wieder. Zum Beispiel erzählt MM von einem Fall eines geschiedenen Paars, das eine Tochter hat. Die Mutter ist Veganerin und der Vater hat die Mutter verklagt, weil sie die Tochter nicht richtig ernährt. "Wie glaubt ihr, hat der Richter entschieden?" fragt MM. "Sie kommt in eine andere Familie", vermutet der Fußballer. Ich starre ihn fassungslos an. Er hat eine Stimme. Er hat das erste Mal seit zwei Jahren seinen Kopf vom Teller weggehoben. Vielleicht wünscht er es dem Mädchen, in eine andere Familie zu kommen, so wie er es sich vielleicht in den letzten zwei Jahren selbst gewünscht hat. Aber jetzt ist er 16, hat sich seine Balottelli-Frisur abschneiden lassen und lächelt manchmal.
Das Mädchen muss übrigens nach einem ausgewogenen Diätplan ernährt werden, in dem von allem etwas vorgesehen ist.
Das Kind hingegen wehrt sich, in die Pubertät einzutreten, zumindest, was meine Rolle betrifft. Seinem Vater gegenüber ist Schnauben die einzige Kommunikation, zu mir ist er sehr lieb und kindisch und erzählt mir, dass Katy Perry in ihrer Garderobe vor jedem Auftritt eine Kiste eines Biers, dessen Name ich vergessen habe, gekühlt, versteht sich, haben möchte, eine Kiste Mineralwasser, 3 Flaschen gekühlten Pinot grigio und rote und rosa Blumen. Ich bezeuge offenbar so viel Interesse (ehrlich gesagt am Pinot grigio), dass er am nächsten Tag wieder berichtet:
- Mamma, ich habe dir doch erzählt, was Katy Perry in ihrer Garderobe will, aber jetzt sag ich dir, was Miley Cyrus bestellt: 102 rote Rosen und 102 weiße Rosen.
- Was? sage ich, meinst du 200 rote und 200 weiße?
- Nein, 102.
Von einem Moment auf den anderen bekomme ich einen Anflug von dem, was man in meiner Jugend "Blutrausch" genannt hat. Eigentlich weiß ich nicht, ob einem dann das Blut in den Adern kocht, so dass einem der Hals schwillt, oder ob man im Rausch solange auf jemanden einschlägt, bis man Blut sieht. Auf jeden Fall würde ich gerne beide Sängerinnen mit dem Kopf zusammenstoßen.
- Ich finde das manisch, sage ich ungeduldig. Ich will sagen: ich finde das obszön.
- Wieso? fragt das Kind erschrocken.
- Stell dir vor, du würdest zu mir sagen, ich soll dir 102 Blumen ins Zimmer stellen, aber es müssen 102 sein.
Das kommt ihm auch komisch vor. Mein Kind weiß, dass es Leute gibt, die nichts zu essen haben, ich muss es ihm nicht sagen. Ich weiß auch, dass ich in seinem Alter Rod Stewart verehrt habe und der hat sich wahrscheinlich noch was ganz anderes als Blumen in die Garderobe stellen lassen.
Ich nehme weiter die Wäsche ab und stecke die orangen und roten Wäscheklammern in einen Sack. Das Kind trollt sich wieder, sicher Gossip lesen.
Donnerstag, 23. April 2015
Vom Wert der Ordnung und des Chaos - eine Bildbeschreibung
Ich räume auf.
Ich räume mein Büro auf. Ich habe mir im November 2013 geschworen, dass ich im November 2014 einen klaren Verstand haben werde. Das heißt: Wissen was wo ist. Das ist auf eine Art gelungen. Also ich habe gewusst, so ungefähr zumindest, was in welcher Kiste ist.
Irgendwann war ich ein ordentlicher Mensch. Zumindest habe ich regelmäßig Ordnung gemacht. Aber da war ich auch noch jung.
Dann war ich nicht mehr so jung. Und dann waren die Kinder da. Und dann sind wir übersiedelt. Und dann sind die Jahre vergangen. Und dann ist heute und ich stehe mit einer dubiosen Abrechnung aus dem Jahre 2006 da. Aber sie ist so schön angelegt, dass es mir leid tut, sie wegzuschmeißen.
Aus einer Kiste kommen Stadtpläne aus Dublin und das Buch von James Joyce: "Ein Porträt des Künstlers als junger Mann", gekauft irgendwo in einem Antiquariat um 2 Euro (oder Schilling)? Das Buch passt zum Stadtplan, aber vielleicht passt es noch besser in ein Bücherregal. Im Buch sind Rechnungen, aber die kann ich wegschmeißen, sie sind auf Thermopapier und es ist nichts mehr darauf zu sehen. Eine interessante Methode der Auslöschung. Nur eine Rechnung ist auf normalem Papier, sie stammt vom 25.04.2004 und wurde im Muse Cafe in der O'Connel Street gedruckt. 2 Espresso und 1 Cookie für 5 Euro 95 um 16:44.
Ich nehme weitere Dinge aus der Kiste. Ein Heft National Geopgraphic aus dem Jahre 1998, September. Ich blättere es durch und da sehe ich IHN. Da sitzt der Mann meiner Träume auf einem Holzgestell vor einem Barockschloss. Offenbar handelt es sich um "Tsarkoye Selo", denn der Artikel handelt von Katherina der Großen und mein Traummann mag ein Restaurator oder ein Museumsaufseher sein. Er hat blondes, verwuscheltes Haar und blonde Augenbrauen. Er sitzt auf diesem Gestell neben zwei Männern mit schmutzigen Lederstiefeln. Einer von ihnen trägt eine Schirmkappe und streichelt einen beigen kleinen Hund. Mein Mann schaut auf den Hund. Er hat sein rechtes Bein über das linke geschlagen und die Unterarme auf dem Knie aufgestützt. Der rechte Arm liegt über dem linken. In der linken Hand hält er eine Zigarette. Er trägt eine Armbanduhr mit schwarzem Lederband. Er trägt ein hellbaues Hemd, das, wie ich meine, bis zum Bauch geöffnet ist, darunter vielleicht ein Unterhemd. Das Foto erstreckt sich zwar über zwei Seiten, aber der Mann sitzt einfach da im goldenen Schnitt und in Wirklichkeit geht es ja um drei Statuen von Atlas, die zwischen Fenstern mit Rundbögen gebaut wurden. Der Mann hat seinen Kopf gebeugt, ein bisschen so wie der Atlas hinter ihm, der die Welt auf den Schultern hat. Was mag der Mann auf seinen Schultern haben? Eine schwierige Liebe ist das Mindeste.
Er trägt eine beige Hose und schwarze Schnürschuhe. Er ist mager und man sieht die Sehnen auf seinen Händen. Sicherlich arbeitet er mit seinen Händen. Seine Mundwinkel sind nach unten gezogen und seine Ohren sind ein bisschen abstehend. Ich versuche zu erkennen, ob er etwas um seinen Daumen gewickelt hat (den Ring eines Schlüsselbunds vielleicht), aber ich sehe nicht mehr so 100% ig und ich möchte keine Lupe nehmen.
Ich werde nicht nach St. Petersburg fahren (obwohl das vielleicht gar keine schlechte Idee wäre), ich weiß ohnehin wer der Mann ist. Er begegnet mir alle paar Jahre. Manchmal ist er ein Polarforscher, auch auf einem Foto, einmal war er ein rothaariger Mann in Florenz, der auf einem Markt am selben Tisch mit mir saß. Wir aßen beide Ribollita und stellten rasch fest, dass wir die gleichen politischen Ansichten haben. Der Mann hatte große Hände, sie waren trocken und es waren weiße Farbspuren zu erkennen. Möglicherweise war er Maler und Anstreicher, für mich Maler. Er lebt auch in Wien und ist Künstler in einem Atelier im 2. Bezirk, in dem ich auf dem Klo war, als ich in der Nähe arbeitete. Auf dem Boden in der Nähe des Klos stand eine kleine Espressomaschine, eine kleine Herdplatte, Kaffee, Tassen, Zucker und Löffel. Der Mann machte Bilder in Serien, abstrakte Bilder mit blauer und rosa Farbe, flüchtig wie Wolken an einem Frühlingstag.
Dieser universal vorhandene Mann ist melancholisch, unpraktisch, wenn es darum geht, sein Gefühlsleben in den Griff zu bekommen. Er braucht seine Hände für mehr als nur zum schreiben und vergisst sich selbst, wenn er arbeitet. Er liebt immer die falschen Frauen und raucht und trinkt zu viel. Er ist leidenschaftlich und das Wohltemperierte ist für ihn zu süß, er hat es gerne stark und bitter.
Klar stelle ich mir vor, wie er mit seinen rauhen Händen über meine heißen Wangen streicht und mich leicht und ein einziges Mal auf den Mund küßt. Zum Abschied. Aber er ist ohnehin immer da. In meinem inneren Schneesturm. Durch den wir so schnell dahinjagen, dass uns heiß wird.
Er ist das, was ich nicht sein kann. Denn ich räume auf, worauf er möglicherweise verzichten würde. Er hätte es nie zu so einem Chaos kommen lassen, denn er, und das weiß ich schon seit Jahrzehnten, kommt mit einem Minimum an Dingen aus und Papierzeug sammelt sich nicht bei ihm an. Verbrennt er es?
Ich mache Ordnung, damit ich die Dinge finde, die mich ans Stürmische erinnern und das ist gut so.
Ich räume mein Büro auf. Ich habe mir im November 2013 geschworen, dass ich im November 2014 einen klaren Verstand haben werde. Das heißt: Wissen was wo ist. Das ist auf eine Art gelungen. Also ich habe gewusst, so ungefähr zumindest, was in welcher Kiste ist.
Irgendwann war ich ein ordentlicher Mensch. Zumindest habe ich regelmäßig Ordnung gemacht. Aber da war ich auch noch jung.
Dann war ich nicht mehr so jung. Und dann waren die Kinder da. Und dann sind wir übersiedelt. Und dann sind die Jahre vergangen. Und dann ist heute und ich stehe mit einer dubiosen Abrechnung aus dem Jahre 2006 da. Aber sie ist so schön angelegt, dass es mir leid tut, sie wegzuschmeißen.
Aus einer Kiste kommen Stadtpläne aus Dublin und das Buch von James Joyce: "Ein Porträt des Künstlers als junger Mann", gekauft irgendwo in einem Antiquariat um 2 Euro (oder Schilling)? Das Buch passt zum Stadtplan, aber vielleicht passt es noch besser in ein Bücherregal. Im Buch sind Rechnungen, aber die kann ich wegschmeißen, sie sind auf Thermopapier und es ist nichts mehr darauf zu sehen. Eine interessante Methode der Auslöschung. Nur eine Rechnung ist auf normalem Papier, sie stammt vom 25.04.2004 und wurde im Muse Cafe in der O'Connel Street gedruckt. 2 Espresso und 1 Cookie für 5 Euro 95 um 16:44.
Ich nehme weitere Dinge aus der Kiste. Ein Heft National Geopgraphic aus dem Jahre 1998, September. Ich blättere es durch und da sehe ich IHN. Da sitzt der Mann meiner Träume auf einem Holzgestell vor einem Barockschloss. Offenbar handelt es sich um "Tsarkoye Selo", denn der Artikel handelt von Katherina der Großen und mein Traummann mag ein Restaurator oder ein Museumsaufseher sein. Er hat blondes, verwuscheltes Haar und blonde Augenbrauen. Er sitzt auf diesem Gestell neben zwei Männern mit schmutzigen Lederstiefeln. Einer von ihnen trägt eine Schirmkappe und streichelt einen beigen kleinen Hund. Mein Mann schaut auf den Hund. Er hat sein rechtes Bein über das linke geschlagen und die Unterarme auf dem Knie aufgestützt. Der rechte Arm liegt über dem linken. In der linken Hand hält er eine Zigarette. Er trägt eine Armbanduhr mit schwarzem Lederband. Er trägt ein hellbaues Hemd, das, wie ich meine, bis zum Bauch geöffnet ist, darunter vielleicht ein Unterhemd. Das Foto erstreckt sich zwar über zwei Seiten, aber der Mann sitzt einfach da im goldenen Schnitt und in Wirklichkeit geht es ja um drei Statuen von Atlas, die zwischen Fenstern mit Rundbögen gebaut wurden. Der Mann hat seinen Kopf gebeugt, ein bisschen so wie der Atlas hinter ihm, der die Welt auf den Schultern hat. Was mag der Mann auf seinen Schultern haben? Eine schwierige Liebe ist das Mindeste.
Er trägt eine beige Hose und schwarze Schnürschuhe. Er ist mager und man sieht die Sehnen auf seinen Händen. Sicherlich arbeitet er mit seinen Händen. Seine Mundwinkel sind nach unten gezogen und seine Ohren sind ein bisschen abstehend. Ich versuche zu erkennen, ob er etwas um seinen Daumen gewickelt hat (den Ring eines Schlüsselbunds vielleicht), aber ich sehe nicht mehr so 100% ig und ich möchte keine Lupe nehmen.
Ich werde nicht nach St. Petersburg fahren (obwohl das vielleicht gar keine schlechte Idee wäre), ich weiß ohnehin wer der Mann ist. Er begegnet mir alle paar Jahre. Manchmal ist er ein Polarforscher, auch auf einem Foto, einmal war er ein rothaariger Mann in Florenz, der auf einem Markt am selben Tisch mit mir saß. Wir aßen beide Ribollita und stellten rasch fest, dass wir die gleichen politischen Ansichten haben. Der Mann hatte große Hände, sie waren trocken und es waren weiße Farbspuren zu erkennen. Möglicherweise war er Maler und Anstreicher, für mich Maler. Er lebt auch in Wien und ist Künstler in einem Atelier im 2. Bezirk, in dem ich auf dem Klo war, als ich in der Nähe arbeitete. Auf dem Boden in der Nähe des Klos stand eine kleine Espressomaschine, eine kleine Herdplatte, Kaffee, Tassen, Zucker und Löffel. Der Mann machte Bilder in Serien, abstrakte Bilder mit blauer und rosa Farbe, flüchtig wie Wolken an einem Frühlingstag.
Dieser universal vorhandene Mann ist melancholisch, unpraktisch, wenn es darum geht, sein Gefühlsleben in den Griff zu bekommen. Er braucht seine Hände für mehr als nur zum schreiben und vergisst sich selbst, wenn er arbeitet. Er liebt immer die falschen Frauen und raucht und trinkt zu viel. Er ist leidenschaftlich und das Wohltemperierte ist für ihn zu süß, er hat es gerne stark und bitter.
Klar stelle ich mir vor, wie er mit seinen rauhen Händen über meine heißen Wangen streicht und mich leicht und ein einziges Mal auf den Mund küßt. Zum Abschied. Aber er ist ohnehin immer da. In meinem inneren Schneesturm. Durch den wir so schnell dahinjagen, dass uns heiß wird.
Er ist das, was ich nicht sein kann. Denn ich räume auf, worauf er möglicherweise verzichten würde. Er hätte es nie zu so einem Chaos kommen lassen, denn er, und das weiß ich schon seit Jahrzehnten, kommt mit einem Minimum an Dingen aus und Papierzeug sammelt sich nicht bei ihm an. Verbrennt er es?
Ich mache Ordnung, damit ich die Dinge finde, die mich ans Stürmische erinnern und das ist gut so.
Freitag, 5. Dezember 2014
Männer
Hinter unterem Haus stand einst ein
Feigenbaum. Er trug einen Teil zu der romantischen Atmosphäre bei, die
uns derart gefiel, dass wir dieses Haus kauften. Neben einem
Apfelbaum fiel dieser Feigenbaum der Säge zum Opfer. An seiner
Stelle wurde ein Parkplatz für unser Auto geschaffen. Hinter dem
ehemaligen Feigenbaum wurden riesige Eisenkörbe mit großen Steinen
in die Erde gepfropft, auf dass auch LKWs an unser Haus herankönnen
und es wurde eine bereits bestehende Mauer erhöht. Damit eben das
Auto gut parken kann. Der Feigenbaum zog ohnehin nur Wespen und
andere gefährliche Insekten an, wurde mir erklärt.
Der Nachbar zog auch seinen Nutzen aus
unseren grobschlächtigen Veränderungen und baute den winzigen
Trampelpfad, der hinter unserem Haus zu seinem Haus führte in eine
ungepflasterte Straße aus, über die er nicht nur Zugang zur
kleinen öffentlichen Straße hat, sondern auf der auch seine Söhne,
Schwiegersöhne und Enkel mit Kindermotorrädern, normalen
Motorrädern und Motocross-Maschinen fahren.
Vier Jahre stand nun also unser kleines
rotes Auto unter einem großen Eichenbaum am oberen Rand dieser immer
unverputzt gebliebenen Mauer geparkt, wenn es zu Hause war. Zwischen
Mauer und Haus spielten die Jungs Fußball, manchmal mit den Jungs
vom Nachbarn. Der linke Nachbar und seine Frau pendeln zwischen ihrem
Haus und dem Anwesen des rechten Nachbarn hin und her, denn sie bestellen dessen
Garten. Links und rechts sind in diesem Fall von unserem Haus aus
gesehene Richtungen und keine politischen Haltungen. Unter dem großen
Eichenbaum wird das rote Auto, zumindest im Herbst, von einer klebrigen
Schicht überzogen.
Eines Tages im Frühling kam der
Nachbar und sagte zu MM, dass er glaube, diese Mauer müsse
verbessert werden, denn sie habe sich ausgebeult und man möge ein
Unglück vermeiden, schließlich spielen ja Kinder im Schatten dieser
Mauer. Das wunderte mich gar nicht, denn aus dieser Mauer hatte ich
schon Wasser kommen sehen, aber wie konnte ich annehmen, dass dies
nicht ordnungsgemäß war, schließlich wurde diese Mauer nicht vor
hundert Jahren hinter dem vor hundert Jahren erbauten Haus gebaut,
sondern vor fünf Jahren, als das hundertjährige Haus renoviert
wurde. Und zwar von legal bezahlten Fachkräften. Eine Schlange
wohnte auch in der Mauer, aber das sagte ich niemandem, denn ich
weiß, dass sich die meisten Leute, darunter auch unsere Nachbarin,
vor Schlangen fürchten. Außerdem wohnte die Schlange, wenn ich
genau sein möchte, nicht in der Mauer, sondern hinter der Mauer.
Nach einigen Wochen Ungläubigkeit sah
auch MM ein, dass die Erde über der Mauer eine Art Wasserbecken
gebildet hatte, die das Wasser auffing und durchsickern ließ, statt
es abzuleiten. Dadurch hatte sich die Erde ausgebreitet und gegen die
Mauer gedrückt. So habe ich es mir zumindest vorgestellt. Und wer
war schuld? Der Obermaurer. Der Obermaurer, den ich einst so
kompetent und liebenswert gefunden hatte, ist für mich mittlerweile
an allem schuld, was nicht funktioniert, schmutzig ist oder nach
wenigen Jahren ausgetauscht werden muss. Das verbindet ihn mit meinem
Ehemann. Und tatsächlich verteidigte dieser den Obermaurer. Also
hatten sie gemeinsam eine inkompetente Entscheidung getroffen und
eine rachitische Mauer gebaut, die dazu bestimmt war, nach fünf
Jahren abgerissen zu werden, auf dass kein Unglück geschehe.
Ich möchte keinesfalls viele Worte zum
Mauerabriss und zum Maueraufbau verschwenden. Nur so viel: Es hat lange
gedauert. Es war teuer. Es sieht hässlich aus.
Jetzt sind alle zufrieden. MM, der
Nachbar, der (für uns neue) Maurer. Sogar meine großen Söhne
wurden eingebunden und konnten sich mit stundenweiser Hilfe Geld
verdienen.
Ich habe die Vision, dass alle Häuser
und Bauten auf unserem Hügel durch ein Erdbeben oder eine andere
apokalyptische Naturkatastrophe zusammenbrechen und ins Meer gespült
werden, während diese neue Mauer stehen bleiben wird. Man wird sie
auf Satellitenbildern ausnehmen können und ich überlege mir, ob ich
eine Nachricht für die Generationen oder Lebensformen, die nach uns
kommen werden, in dieser Mauer hinterlassen soll.
Und das rote Auto parkt jetzt nicht
mehr auf durstiger Erde, sondern auf ästhetisch wertvoll regelmäßig
klein gehacktem Schutt, was ein bisschen wie Kieselsteine wirkt. Ich
spreche nicht über die Mauer, ich mache das, was man mir sagt. Ich
parke hier, ich parke dort, ich parke ein bisschen weiter links, ein
bisschen weiter rechts, ein bisschen weiter hinten, ein bisschen
weiter vorne, je nach dem Stadium des Mauerbaus. Ich schaue aus dem Schlafzimmerfenster und sehe die graue
Mauer. Dafür hätte ich nicht aufs Land ziehen müssen. Ich
überlege, welche bis jetzt unbekannten Geldquellen ich anzapfen
kann, damit diese Mauer auch verputzt wird, denn ich weiß, dass das
Kind dann gerne etwas daraufmalen wollen wird. Ein Regenbogen ist sicher das
Minimum.
Das große Glück über diese und mit
dieser Mauer versetzt MM in derartige Ekstase, dass er auch das große
blaue Auto unter der Eiche parkt. Beim Abendessen doziert er über
die zeitlichen Vorteile, die dieses Parken mit sich bringt, denn man
stürzt sich die kleine Straße hinab und ist hinter dem Haus und
muss nicht die lange gewundene Straße hinter sich bringen, um vor
dem Haus anzukommen. Dass man die beiden Autos dann umparken muss,
damit das richtige Auto am nächsten Morgen in Poleposition steht,
und dass das große blaue Auto schwer zu wenden ist, wird nicht
eingerechnet. Da auch ich meine Steckenpferde habe, die immer
gewinnen, auch wenn nach rationaler Betrachtung der Lage ihr Vorteil
nicht so groß ist, sage ich nichts.
Eines Morgens, als alle vier männlichen
Mitbewohner hinter das Haus stapfen, um mit dem blauen Auto zur Schule und Arbeit zu
fahren, fahren sie nicht. Als ich das Schlafzimmerfenster öffne und
seufzend auf die graue Mauer starren will, sehe ich die drei älteren
männlichen Wesen ums Auto herumschleichen und das Kind betreten im
Auto sitzen. Ich sehe es sofort: das Auto wurde in den Sand gesetzt.
Der Eintonner befindet sich zu nahe an der Mauer und das Hinterrad
ist im Schutt versunken. Instinktiv ziehe ich mich zurück und denke
an Traktoren, die das Auto herausziehen und an Entschuldigungen in
Mitteilungsheften. Ich kann MM nicht einmal zum Autobus bringen, denn
das kleine rote Auto steht vor dem blauen und wenn sich dieses nicht
bewegt, bleibt auch das rote Auto stehen.
Der Fußballspieler, der sich vor einer
Minute noch in Zeitlupe, beschwert von Hormonen, aus dem Haus
geschleppt hat, kommt elastisch gelaufen und verlangt eine Schaufel.
Ich verlasse das Haus aus Sicherheitsgründen nicht, denn ich würde
meinen Mann sehr beleidigen, wenn nicht sogar tätlich angreifen. Der
Fußballspieler teilt mir außer Atem mit, dass das Kind Steine
weggetreten hätte, worauf das Auto nun feststecke. Das Kind! Soviele
Steine konnte das Kind doch gar nicht in drei Minuten wegtreten. Ich
nähere mich nicht wieder dem Schlafzimmerfenster, sondern finde
mir, ganz gegen meinen normalen Rhythmus eine Beschäftigung in der
Küche. Nach zwanzig Minuten gehe ich ins Schlafzimmer, sicher, dass
alle längst weg sind. Da schaufeln die noch immer, die Reifen drehen
durch, der Motor heult auf, Rufe des großen Sohns: Mehr links, mehr
rechts, geradeaus, basta, stopp. Das Kind steht abseits und beginnt
nun zu klatschen und zu springen. Offenbar haben sie es geschafft.
Ich höre noch mehrmals das Wort „Zement“.
Als sie weg sind, frage ich mich, ob,
wenn ich mein Auto dort eingegraben hätte, meine Kinder dann so
hilfsbereit gewesen wären und in ihren langwierig ausgesuchten
Klamotten Steine umgeschichtet hätten und dabei
unternehmungslustiger als normal geworden wären.
Nach ein paar Stunden ruft MM an und
sagt, er hätte am Morgen ein kleines Problem mit dem Auto gehabt. In Wirklichkeit sind alle zu spät in die Schule
gekommen und MM musste mit dem Auto zur Arbeit fahren, weil der Bus schon lange
weg war.
Auch die Jungs sagen, es wäre am Morgen nicht ganz einfach gewesen, wegzufahren. Und man merkt, dass
sie glücklich sind, weil sie vor der Schule schon ein bisschen
Abenteuer und Schweiß hatten. Das Kind sagt nichts, was darauf
hindeutet, dass es vielleicht wirklich schuld an dem Desaster war.
Oder weil es noch nicht so eine breite Brust hat, auf die es sich
dann klopfen will.
Ich sage auch nichts. Daher schreibe
ich es hier: „ICH hätte das Auto dort NIE geparkt.“
Labels:
coming home,
family life,
work in progress
Mittwoch, 19. November 2014
Hühnerbegräbnis
Tommy ist Bertas Sohn. Berta war ein
Schäferhund mit abgeschnittenem Schwanz, der böse die Zähne
fletschen konnte und eines mehr als ein Jahr zurückliegenden Tages sehr mager
und offensichtlich verstoßen oder geflohen auf unserer Terrasse
vorstellig wurde und sich nach kurzer Bedenkzeit bei uns niederließ.
Mittlerweile hat sie uns verlassen um in die wahrhaft ewigen
Jagdgründe einzugehen. Berta hatte eine Vorliebe für Igel, die sie
in ihre Hundehütte brachte, ohne dass wir je gesehen haben, wie sie das
machte. Ich trug diese Igel, zumindest glaube ich, dass es nicht
immer ein und derselbe war, auf einer Mistschaufel zu den Hennen,
legte sie dort ins Gestrüpp, kauerte mich eine Zeitlang zu ihnen, um
zu beobachten, was sie taten. Sie atmeten. Am nächsten Tag waren sie
dann immer weg.
Tommy ist ein schwarzer Hund mit weißer
Brust und hat eine Freundin namens Zora, ebenfalls schwarz und aus
einer Rasse stammend. Zugegebenermaßen finde ich, dass Zora dümmer
als Tommy dreinschaut. Beide schauen sie naiv. Beide werden sie von
den Nachbarn beschuldigt, sämtliches frisch gepflanzte Gemüse
ausgegraben zu haben und sich an Kaninchen zu vergehen. Ich habe das
nie gesehen und war bis vor kurzem bereit, meine Hand für Tommys
Unschuld ins Feuer zu legen.
Bis das Huhn auf der Terrasse lag. Das
Huhn war schwarz und möglicherweise eine Henne. Zuerst habe ich nur
etwas schwarzes gesehen und hatte ein unangenehmes Gefühl. Während
ich noch mit dem Kind über die Fläche einer Raute sprach, die einem
Viertel eines äquivalenten Quadrats entspricht, ging ich auf die
Terrasse und stellte fest, dass das Schwarze eben ein Vogel ohne Kopf
war. Das Kind und ich haben uns erschrocken angesehen. Dann gingen
wir zum Hühnerhof, in Hausschuhen und zählten unsere Hühner, was
nicht schwer ist, wir haben nur zwei schwarze Hennen und beide kamen
fröhlich auf uns zugestolpert.
Das Massaker betraf also irgendwelche
Nachbarn, was fast noch unangenehmer war. Vor ein paar Jahren, als
unser Hund Benny allerlei Unfug anstellte, was ihm schlußendlich
möglicherweise das Leben gekostet hat, habe ich auch ein Huhn
gefunden. Ich habe es damals in einen Plastiksack gesteckt und bin
eine riesige Runde gegangen und alle Nachbarn behaupteten, dass ihnen
dieses Huhn nicht gehöre. Mittlerweile glaube ich fast, sie haben es
aus irgendwelchen Gründen des Ehrenkodex nicht zugegeben. Jedenfalls
wusste ich schon, dass ich den Besitzer der schwarzen kleinen Henne
gar nicht erst zu suchen brauchte. Ich wollte die Henne gerne mit
einer Schaufel einfach in den Weingarten schmeißen. Ich mache das
oft mit unliebsamen Dingen wie Hunde- oder Katzenscheiße. Aber schon
die Igel musste ich weiter wegbringen, ins eingezäunten
Hennengehege, weil Berta sie sonst wiedergebracht hätte. Also
widerstand ich der Versuchung der einfachen Lösung, aus Angst, Timmy
könne den Vogel wieder und wieder bringen und jedes Mal wäre ein
Stück weniger dran. Was hätte mein abwesender Mann gemacht? Ich
ließ die Schaufel stehen und griff zum Telefon. MM gab mir
Anweisungen, das Tier unter dem Birnbaum zu vergraben. In meiner
Aufregung wusste ich gar nicht, von welchem Birnbaum er sprach, aber
ich konnte mir eine Idee machen und ging auf jeden Fall unter einen Obstbaum und begann, zu graben. Es hat monatelang nicht
geregnet und ich hatte das Gefühl, Zement aufzugraben. Ich dachte,
ich werde es nie schaffen, ein entsprechend großes Loch zu graben,
da half mir auch die Kenntnis der Formeln für Flächen nicht.
Und auch wenn ich die Kubikzentimeter berechnen hätte können, wäre mir nicht leichter gewesen. Zentimeter für Zentimeter, Gramm für Gramm hob ich die trockene
Erde ab. Ich musste an meine Kindheit denken, als ich im Weingarten
meines Vaters Löcher grub, um Dinge zu verstecken, die ich später,
in meiner Eigenschaft als Detektivin wieder finden würde. Ich musste
an Patricia Highsmiths Kriminalromane denken und wie unfähig ich
war, eine Leiche verschwinden zu lassen, auch wenn es sich nur um
einen Tierkadaver handelte. Ich musste denken, dass in einer
zivilisierten Gesellschaft andere Methoden existieren, sich eines
Tierkörpers zu entledigen, aber da ich in einem Teil Europas wohne,
in dem derzeit der Müll seit drei Wochen nicht abgeholt
wird, fühle ich mich durchaus berechtigt, die Henne unter die Erde
zu bringen.
Mittlerweile schwitze ich schon
ziemlich, aber das Loch ist doch ein bisschen größer geworden. Noch
ein bisschen Anstrengung und Stöhnen und dann nehme ich die Henne
wieder auf die Schaufel und lasse sie in die Aushebung plumpsen. Ich
lege mit der Schaufel die Klauen zusammen. Zum Glück hat das Tier
keinen Kopf mehr und wirkt dadurch abstrakter. Es verschwindet nicht
ganz im Loch und als ich es mit Erde bedecke, bleibt ein kleiner
Hügel. Ich lege trockenes Gras darauf.
100 m weiter unten ist einer der
Nachbarn mit seinen Schafen unterwegs, ich höre ihn mit ihnen
sprechen. Ich denke, dass das beste Verbrechen unter den Augen aller
vollzogen wird. Eben Patricia Highsmith.
Am nächsten Tag gehe ich durch den
Obstgarten und stelle fest, dass mein Hühnergrab unberührt und nur
noch an der Grasbedeckung für mich zu erkennen ist. Ich bin fast
stolz auf mich. Ich will ja immer die sein, die im Holzfällerhemd
das Holz fällt und vor allem mit der Grasschneidemaschine Gras
schneidet. Aber ich habe kein Holzfällerhemd und MM hat mir
verboten, die Kettensäge zu benutzen.
Am übernächsten Tag liegt wieder
etwas auf der Terrasse. Was ist das? Es sieht aus wie ein Stofftier.
Ein sehr teures Stofftier. Oh nein, zum Glück ist keiner der Jungs
zu Hause. Tommy ist an der Leine. Diesmal ist er wirklich
unschuldig. Dieses Kaninchen hat Zora gebracht, die am Morgen
hier mit Tommy gespielt hat, bevor ich ihn angeleint habe. Es ist ein
graues Kaninchen, wieder ohne Kopf. Es sieht sehr weich aus und hat
entzückende Läufe. Diesmal muss ich niemanden mehr um Rat fragen.
Einen Moment bin ich versucht, zur Nachbarin zu gehen und ihr zu
sagen, dass es Zora war, denn Tommy kann sich nicht alleine ab- und
wieder anleinen. Aber ich nehme davon Abstand. Eigentlich weil ich
Angst habe, was sie mir dann für Schauergeschichten über umgewühlte
Salatbeete und in der Gegend herumkollernde Kürbisse erzählen
könnte.
Ich hebe das Kaninchen auf die Schaufel
und gehe zum Birnbaum hinunter. Heute bin ich schon ein bisschen
flotter, dafür muss die Grube tiefer sein. Das Kaninchen ist
erstaunlich beweglich und faltet sich in seinem Loch zusammen. Die
Erde ist immer noch trocken und ich lege zum Abschluss einige Steine
auf das Grab, um anderen Hunden eine Exhumierung schwerer zu machen.
Und so macht jeder, was er machen muss.
Mittwoch, 30. Juli 2014
Was trunken macht
- jede Art von Alkohol
- ein etwas zu lang gelächeltes Lächeln von jemandem, den man bis jetzt nicht in Betracht gezogen hat
- eine heftige Diskussion mit gutem Ausgang
- die Aussicht, jemanden kennenzulernen, den man bis jetzt nur über e-mails kennt
- das Ende eines langen Tages
- ein schneller Spaziergang
- abends im Meer zu schwimmen
zum Beispiel
- ein etwas zu lang gelächeltes Lächeln von jemandem, den man bis jetzt nicht in Betracht gezogen hat
- eine heftige Diskussion mit gutem Ausgang
- die Aussicht, jemanden kennenzulernen, den man bis jetzt nur über e-mails kennt
- das Ende eines langen Tages
- ein schneller Spaziergang
- abends im Meer zu schwimmen
zum Beispiel
Samstag, 12. Juli 2014
Die schmerzvolle Schönheit des Vergänglichen
Man möchte es so sagen:
Ti amo tanto. Ich liebe dich so sehr. Man möchte es sagen und dahin stellen. Dorthin stellen, irgendwo hin stellen. Wo es dann steht. Und aus. Und keine Konsequenzen.
Ti amo tanto. Ma tanto tanto tanto. Also wirklich ganz ganz viel und ganz ungeheuerlich. Und nicht mehr und nicht weniger. Und das heißt es. Und ping, wie mit dem Zauberstab, Sternchen, ist man wieder weg.
Und was bleibt? Bleibt etwas? Aber ja. Ein größeres Herz. Fast überdimensional, man muss schauen, ob es nicht aus der Kleidung quillt.
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