Donnerstag, 16. Januar 2014

CSI Calabria, Folge 1: Eierdiebe

Seit September haben wir Hennen. Das ist nicht der Grund, warum ich so lange nichts geschrieben habe, obwohl ich wirklich lange im Hühnerhof stehen kann und kontemplativ den Hendln zuschauen. Zuerst haben wir drei Hennen gekauft, was mich schon sehr erschöpft hat, aber als sich herausgestellt hat, dass die Hennen nach anfänglicher Verwirrung zu den besingenswürdigsten Wesen dieses Planten mutierten, haben wir gleich noch drei gekauft. Die Hennen haben nämlich recht schnell gelernt, dass sie sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht auf einen Ast über unseren Kopf setzen sollen, sondern in das von MM liebevoll gebaute Hühnerhaus einsteigen und dort auf einer Stange Platz nehmen. Die zwei roten und die schwarze Henne haben das so schön gemacht, dass wir dachten, jetzt müssen noch drei Hendln her, sonst sind die drei alten schon alt, wenn die neuen kommen und dann streiten sich die vielleicht. Also fuhr MM und holte die beiden blonden und eine zweite schwarze Henne. Namen haben wir ihnen keine gegeben, aber wenn es sein müsste, dann hießen sie Lotte und Luise, Liese und Lara, Ludmilla und Lodovica.

Jede dieser Hennen hat eine ihr eigene, unverwechselbare Persönlichkeit und wir werden keine Schnitzeln aus ihnen machen sondern geben ihnen viel teures Kraftfutter, denn sie sollen ja Eier legen. Ich habe insgeheim gehofft, sie würden das vom ersten Tag an tun, um ihre Anschaffungskosten zu amortisieren, haben sie aber nicht, denn angeblich muss man sich drei Monate in Geduld üben, bevor es zum ersten Ei kommt. Am 8. Dezember war es dann so weit, passend zur unbefleckten Empfängnis lag das erste unbefleckte Ei im Nest. Und brav jeden Tag ein weiteres.

Über Weihnachten sind wir weggefahren und ich habe unserer Nachbarin Instruktion gegeben. Dass die große Tür mit einem Eisendraht so befestigt wird, dass sie nicht zu fällt, denn unsere Hennen gehen wie im Schulschikurs manchmal auch tagsüber in die Zimmer. Dass im Nest ein Ei aus dem Supermarkt mit einem grünen Stempel liegt, das zum Eierlegen animieren soll. Diesen psychologischen Trick habe ich von meiner Schwiegermutter gelernt. Sie hat mir auch erklärt, dass man überprüfen kann, ob eine Henne ein Ei hat, wenn man ihr einen Finger in den Hintern steckt. Den Wahrheitsgehalt dieses Tipps habe ich jedoch bis jetzt nicht überprüft. Aber wie man sieht, halten unsere 6 Hennen die Großfamilie bei Laune und auch meine Nachbarin war total willig, die Hennen bis zur Selbstaufgabe zu pflegen.

Am Tag unserer Abreise steuerte eine zweite Henne ihr Schärflein zum Eierkarton bei und die Nachbarin, die sich die Eier nahm (auch das mit dem grünen Stempel), buk uns zum Ausgleich am Tag nach unserer Rückkehr eine riesige Crostata. Das Eisen, das die Tür offen halten sollte, hatte sie mit aller Kraft verbogen, damit die Tür besser schloss, oder sonst was. Sie hört mir so gut zu wie meine Kinder, es muss an mir liegen.

Eine Woche ging es weiter mit zwei Eiern pro Tag, dann war plötzlich Schluss. Das kleine Strohnest blieb leer. Ich dachte, das liege daran, dass es etwas kalt geworden war und legte mich in Folge mit hohem Fieber ins Bett. Die Aufgabe, das Hühnerhaus zu öffnen, das Futter, bestehend aus zerstoßenem Mais, einzufüllen, das Wasser zu wechseln und die Gemüsereste auszustreuen ging auf MM über. Dieser fand bereits am Tag Nummer 1 seiner neuen Verantwortlichkeit zwei Eier auf dem Boden. "Die Eier lagen auf dem Boden! So ein Glück, dass du nicht draufgestiegen bist, denn sie waren da ja schon am Vorabend." Bei 39 Grad Fieber ist es mit ganz egal, wann diese Eier wohin gelegt wurden, aber irgendwie ist es schon komisch, denn am Vorabend habe ich mit der Taschenlampe in der Hand das Hühnerhaus verschlossen und wie man aus CSI weiß, sieht man im Lichte einer Taschenlampe ALLES, auch Eier auf den Boden.

Am nächsten Tag lag ich immer noch mit 39 Grad Fieber (schon den nächsten) im Bett, als das Telefon läutet und MM aus seiner Arbeit anruft, um mir mitzuteilen, dass wieder zwei Eier auf dem Boden gelegen hätten und er jetzt nach stundenlangem Nachdenken zu dem Ergebnis gekommen sei, es könne sich nur um einen Akt menschlichen Tuns handeln. Denn gestern abend, seien diese Eier garantiert nicht auf dem Boden gelegen. So traurig das alles sei, es gebe jemand, der unsere Eier stehle. Und dann zwei davon auf den Boden lege. Als ich mit schwacher Stimme zu Bedenken gebe, dass ich nicht glaube, dass jemand von unseren Nachbarn so dumm oder so ausgefuchst sei, Eier zu stehlen, antwortet MM mit einem Spruch aus einem Comix seiner Jugendzeit und in diese ist er offensichtlich zurückgekehrt. Ich gebe zu Bedenken, dass diese Eier vielleicht von wo hergerollt wären. Das findet MM ziemlich lächerlich, denn woher sollen diese Eier rollen und warum? Ich sage: "Du hast zwei Möglichkeiten: entweder du hängst ein Schloss vor den Hühnerhof, oder du öffnest das Hühnerhaus schon um sechs Uhr morgens, statt um halb acht, dann kann noch niemand die Eier gestohlen und zur Tarnung einen Teil seiner Beute auf den Boden gelegt haben." Beide Lösungen gefallen MM, ich glaube, am besten kann er sich vorstellen, wie er im Morgengrauen einen vermummten Eierdieb niederringt.

Der folgende Tag ist ein Samstag und ich liege immer noch im Bett, diesmal nur noch mit 38 Grad Fieber. Im Lauf des Vormittags besucht mich MM. Er hat eine Plastikschüssel mit vielen Eiern in der Hand. "12!!" sagt er beglückt. Die Hennen haben 12 Eier in ein von ihnen selbst gebautes Nest oberhalb ihres Hühnerhauses gelegt. Von wo aus, jeweils zwei nach unten gerollt sind.

Die Freude über diesen plötzlichen Eierreichtum ist größer als das Bedürfnis, eine Flasche Sekt im CSI-Labor zu entkorken und mit einem Plastikbecher anzustoßen. Dass unsere Nachbarn im Umfeld von fünf Kilometern nun über jeglichen Verdacht erhaben sind, geht in der Sorge unter, wie wir unsere sechs Hennen nun dazu bringen können, wieder in UNSER Nest zu legen, statt in IHR Nest.
Ein Fall für meine Schwiegermutter. Doch die ist nicht sehr optimistisch. "Ihr müsst sie in ihrem Hühnerhaus halten, bis sie die Eier gelegt haben. Vorher dürfen sie nicht raus." Sie schwarze Pädagogik meiner Schwiegermutter führt dazu, dass die Hennen alle verärgert MM zur Seite stoßen, als er das Hühnerhaus aufmacht, sofort hinaushüpfen, auf ihr Nest zustürzen und dort 5 Eier deponieren.
Nun bringt aber meine Krankheit den Vorteil, dass alles morgens später wird, und die Hennen können am nächsten Morgen bis halb zwölf ihr Haus nicht verlassen, worauf sie brav ihre Eier ins Strohnest legen. Und am folgenden Tag auch und dann wieder.

Ich bringe einige Eier meiner Nachbarin, die mir eine Crostata verspricht. Allerdings dräuen am Himmel der Zukunft die ersten Wolken in unserem ungetrübten Verhältnis zu den Hennen auf. Die Nachbarin sagt, dass ihre Hennen keine Eier legen. Und unsere werden auch wieder aufhören, denn sie müssten sich erholen. Erholen? Wovon denn? Unsere Hennen haben das schönste Leben der Welt. Sie sind zu sechst auf etwa 200 Quadratmeter einstiger Grünfläche, werden ernst genommen, wenn sie wie eine eifrige Wachtruppe das Gelände erkunden und haben hoffentlich keine unlösbaren inneren Konflikte. Bei Einbruch der Dunkelheit gehen sie schlafen und wenn es hell wird, möchten sie wieder ihre emsigen Rundgänge beginnen. Ich versuche mir jeden Tag ein Beispiel an ihnen zu nehmen, auch wenn ich beim Schlafen das Liegen bevorzuge.

Montag, 24. Juni 2013

kleine Silberfischerl

Wo ich jetzt grad bin, da rennt ein ganz kleines Silberfischerl im Klo über den Boden. Das kommt mir passend vor. Alles ist hübsch und die Frauen tragen Dirndln und der Boden ist so sauber, dass nur fast nicht sichtbare Silberfischerln herumflitzen, aber es gibt sie dennoch. Es gibt sie immer. So ein Glück. Irgendwie, oder?
Es geht schon wieder um die G'stätten glaub ich. Ich beneide die Leute in meinem Heimatland nicht, weil sie haben so wenig Freiraum. Die Orte unserer Erinnerung gibt es nicht mehr, dort, wo meine Brüder im Sand Fußball gespielt haben, stehen herzeigbare Gemeinde- oder Genossenschaftsbauten und wo ich alle wesentlichen Erkenntnisse einer 5 - 15 jährigen hatte, gehen jetzt Menschen gepflegt spazieren, aber zum Glück nicht so gepflegt, dass es alle Erkenntnisse mit einem Schlag auslöschen würde. Dort geh ich immer noch in den Hosen von meinen Brüdern herum, die mir damals besser gefielen, als die für mich vorgesehene Kleidung. Dort erhol ich mich von der gewaltigen Macht einer Schulausbildung, die mir eine besondere Last ist, wenn es sich um Häkeln und um Singen handelt. Ich brauche nur an das ungepflegte Gras denken, über das ich getrost trampeln kann und ich weiß wieder alles, das Gemeine, das hinter mir liegt und das Große, das vor mir liegt. Wer nicht häkeln und singen kann, kann am Nachmittag an der Donau sitzen, auf den Treppen, über die meistens das Wasser schwappt, viel zu nah, aber das weiß die Mama nicht, und in Gedanken auf einem der Lastschiffe nach Rumänien fahren. Mit einem Hühnerkäfig an Bord. Später trample ich über das Gras auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage nach der Richtigkeit eines jungfräulichen Begehrens. Die G'stätten hat mir immer geantwortet, wenn auch immer g'stättenhaft und ich hätte mir vielleicht einiges erspart, wenn ich meine Entscheidungen in einem dem Gestaltungswillen mehr unterworfenen Ambiente gesucht hätte. Jetzt ist das wahrscheinlich eh bei allen so, dass es die kontemplativen Orte der Jugend oder der Kindheit nicht mehr gibt, außer einer ist zum Nachdenken auf einen Berg gekraxelt. Und es ist eine Frechheit, dass man da nicht mehr zurück kann. Bitte wo soll man heutzutage seine Angst bewältigen oder seine Wut auslassen? Die Bierflaschen kann man nicht mehr getrost gegen die Wände verlassener Fabriken werfen. Alles hat Konsequenzen heute.
Ich glaube, ich bin mein ganzes Leben lang auf der Suche nach der unverbauten unverplanten Fläche. Und in Kalabrien bin ich gut bedient. Es ist halt alles nur recht gebirgig. Die Schafhirten in unserer Umgebung stecken ihre leergetrunkenen Bierflaschen auf irgendwelche Holzstecken und Äste. Das Kind nimmt so eine Bierflasche und schleudert sie in die Natur. Weit weg, denn er ist ein guter Werfer. Ich frag ihn, ob er übergeschnappt ist und fange an, von der Halbwertszeit von Glas zu reden. Und dann mach ich mir lange Zeit Sorgen um die dunklen Seiten in meinem engelsgleichen Kind.
Hier und jetzt, bei den kleinen Silberfischerln im Klo denke ich an meine eigenen Untiefen, die, die auf der G'stätten sind, unter dem Zubetonierten. Und ich möchte das Mädchen in den abgeschnittenen Hosen, das nicht häkeln und nicht singen kann, zu mir holen, denn es fehlt mir.

Sonntag, 9. Juni 2013

so won't you stay...

Jetzt arbeite ich mit anderen Menschen zusammen, von denen die meisten graue Haare haben und die anderen wirklich wirklich jung sind. Die grauen Panther sind irgendwie kindisch und die Jungen ernsthafte Menschen. Die Veteranen haben mehr Erfahrung und die Kinder wirken verzweifelter. Schöner sind sie, je jünger, desto schöner, das schon. Aber die Lust und das Begehren fokussieren sich gar nicht auf die Schönheit und das Reine sondern auf das Wilde und Entschlossene, auf das, was gar nicht anders, sondern nur so geht, auf das Kompromisslose und das hat kein Alter.
Zum Tanzen habe ich dennoch immer noch kein gutes Verhältnis gefunden und daher jetzt bitte keine Leserbriefe.
Das Lieben hört nicht auf, das haben schon einige von ihren Großmüttern und Großtanten gehört, auch wenn es dann heißt: Es hört nicht auf. Es. Männer sagen das nicht. Oder weniger. Heute jung sein, kommt mir vor, ist nicht mehr so daneben, wie damals, als ich das offiziell war. Das Privileg maßlos zu sein, wird sich nicht mehr genommen.
Jetzt, was würd ich machen, worum würde es mir gehen? Ich würde auf einer Hochschaubahn fahren oder zumindest in einer Art Riesenrad und ich würde den Wind in meinem Gesicht spüren und würde sagen, dass das der Grund ist, warum mir die Tränen kommen und ich würde a) den Menschen an meiner Seite an mich ziehen, an mein Herz oder b) mich an seine Brust drücken und versuchen, sein Herz schlagen zu hören. Das wäre schön, ein stetes Bumm zu hören im Rauschen des Windes und des Kreischens, das von anderen Seiten kommt. Und wenn ich unten angekommen wäre, würde ich meinen Kopf gegen diese Brust stützen und damit meinen Widerwillen darüber ausdrücken, dass die Fahrt vorbei ist. Ich würde versuchen, zu heiraten, um immer immer immer auf diese wertvolle Brust Zugriff zu haben. Oder ich würde nach Hause gehen und selig sein, über das, was war. Was sicher vernünftiger wäre, denn das Heiraten garantiert ja nicht ein Herz, dessen beruhigendes Schlagen einen durch jedes Unwetter trägt, sondern im Gegenteil ein Anwachsen eines Sturms und flatternde Herzen auf beiden Seiten. Und dann die kleinen Buzzi-Herzen womöglich, die wie Hundebabys all unser Entzücken verdienen und dann zu verwirrten Teenagerherzen werden, die uns unser eigenes Wollen und Entzücken vergessen lassen.
Jung sein, heißt die Wahl haben. Nicht mehr jung sein, heißt, schon einiges gewählt zu haben, möglicherweise nicht immer das Richtige. War eigentlich nur ich unvernünftig, als ich jung war, oder war das meine ganze Generation? Kommen die Jungen heute nur mir allzu vernünftig vor, oder allen aus meiner Generation? Klar, anschauliche Ausdrucksmittel wie Piercings und Tatoos standen uns damals auch noch nicht zur Seite.
Also alles in allem, was geblieben ist, ist ein Flämmchen, wie in einem Durchlauferhitzer, das sich nicht auslöschen lässt. Das durch alle Falten und labbrigen Haut- und Muskelteile durchblitzt. Das Flämmchen Begehren, dich, mich und danach, etwas zu tun. Es zu tun, mit der Zungenspitze das Salz aufzulecken, ja, das auf der Haut des anderen, oder wo immer es sich eben befindet.

Dienstag, 21. Mai 2013

Leo und ich

Die schwierigen Tage nenne ich jetzt: Tage der Horizonterweiterung. Während sich meine Kinder dauernd zweifelhafte Pop-Songs ins Ohr blasen, höre ich die Klassiker der Literatur. Das macht geduldig. Ich habe David Copperfield gehört, was nachhaltige Folgen auf meinen Gemütszustand hinterlassen hat und mich in Lebensgefahr gebracht hat, da ich während einer langen Autofahrt so sehr über Doras Tod weinen musste, dass ich die entgegenkommenden Autos kaum wahr nehmen konnte. Und jetzt "Krieg und Frieden". Pause. Pause. Pause. Krieg und Frieden. Krieg und Frieden. Krieg und Frieden. Krieg und Frieden. Ich hab das nie gelesen. Gibt es jemanden, der das getan hat?
Aber jetzt kann ich es hören, Eierphone sei Dank. Hätte es mein Leben verändert, wenn ich es früher gewusst hätte, was der Leo Tolstoj für einer ist? Wohl kaum, denn ich glaube, dass es erst jetzt, wo ich nicht mehr forever young bin, in mein Hirnkastel dringen kann. Also während der Fürst Andrej stirbt (hat der Tolstoj schon mal so was erlebt? MM sagt, er hätte Interviews gemacht, wie meint MM das? Der Tolstoj mit einem kleinen Diktiergerät, oder wie?), habe ich einen sehr anstrengenden Tag weil nämlich die Autobusfahrer streiken und zwar zu Recht, denn die Region Kalabrien hat beschlossen, die Hälfte ihres öffentlichen Verkehrs nicht mehr zu bezahlen. An  dieser Stelle möchte ich laut und anhaltend lachen. Ich bin ein echter Fan des öffentlichen Verkehrs, obwohl es in unserer Familie zwangsweise zwei Autos gibt. Die Hauptstadt der Region Kalabrien heißt Catanzaro und ist mit öffentlichen Verkehrmitteln praktisch unerreichbar. Das weiß ich, weil ich nämlich ein Tablet, das Garantie hat, umtauschen will und alle dazu berechtigten Geschäfte befinden sich in dieser unsäglichen Stadt in die nur frühmorgens (sehr früh morgens) Busse fahren und wenn man aus diesen Bussen steigt, muss man über Straßen gehen, die Google maps nicht für Fußgäger vorsieht. Wenn ich dann dort gehen würde, dann wäre ich eine dieser wunderlichen Personen, über die man lange nachdenkt, wenn man sie am Straßenrand wanken sieht. Also im aktuellen Fall will ich aber gar nicht nach Catanzaro, ich habe beschlossen, dass ich in Rom viel eher und leichter vorbeikomme, in diesem Fall will ich einfach in unserer Provinzhauptstadt arbeiten.
Bevor ich den Bus betrete, ruft MM an und sagt, ich soll mich wegen dem Streik erkundigen. Habe ich an dieser Stelle schon einmal geschrieben, dass alle meine Kinder immer schon das Wort Streik (sciopero) schreiben, verstehen und interpretieren konnten? Das Wort equilateral (gleichseitig) ist vergleichsweise anspruchsvoll für sie. Also erkundige ich ich wegen dem Streik. Streik? sagt der Busfahrer auf seine Art unwillig. Consorzio Autolinee streikt, die Buslinie, mit der ich fahre, nicht. Ok. In der Stadt lässt er uns aber früher aussteigen, weil der Autobusbahnhof besetzt ist und den Fahrgästen schwant Böses. Ich plaudere mit einem netten Fahrer und sage zum Schluss noch "speriamo bene" (hoffen wir Gutes). Die gute Hoffnung lasse ich aber fahren, als ich ins Büro der Busgesellschaft gehe, um mich zu erkundigen. Der Mann dort ist nahe an einem Kollaps und mir wird die Tragweite von 52 Prozent bewusst, die will die Region nämlich nicht mehr zahlen. Ich erfahre, dass der Streik vom Consorzio Autolinee ausgegangen ist und dass sich andere Busfahrer angeschlossen haben, aber welche und für wie lange wisse man nicht und außerdem hänge das von ihrer Gewerkschaft ab. Gewerkschaft, das Wort zergeht auf der Zunge. Ich bin nicht böse.
Ich will auch einmal pro Stunde in die Provinzhauptstadt fahren können und nicht nur alle 2 Stunden oder zum doppelten Preis.
Aber wie komme ich nach meiner Arbeit wieder nach Hause? Als ich auf dem Busbahnhof vorbeischaue, sagt mir eine Frau Carabiniere, dass dies ein "sciopero ad oltranza" sei. Offenbar geht der Streik, bis eine Übereinkunft erzielt wird. Ich habe noch die Hoffnung, dass einer der Fahrer nicht mitmacht, der, der seinen Autobus zum richtigen Zeitpunkt vor mich hinstellen wird. Aber alle Autobusfahrer sitzen in ihren hellblauen Hemden in einem kleinen Lokal, das "Tavola calda" (warme Küche) verspricht und manch einer schaut auf einen vielversprechenden Teller mit Gnocchi con sugo (e basilico). Ich gehe zur nächsten Haltstestelle und warte gemeinsam mit ein paar Leuten, zufälligerweise aus dem selben Ort wie ich, obwohl der Bus ca. 110 km zurücklegt. Nein, da kommt kein Bus. Also gehen wir zum Bahnhof. Das geht eine Zeit lang ganz gut und dann über in einen Weg neben einer Baustelle entlang an lieblos gestutzten Dornen. Ich verspreche, dass ich hier nicht meine ganz persönliche Beziehung zu den italienischen Staatsbahnen schreiben werde. Aber ich schwöre, es wird hier auch noch Raum finden.
Das Eierphone dient nun nicht mehr dazu, Fürst Andrejs langsamen Tod zu erzählen, sondern zur Organisation eines Mittagessens für das Kind, das eigentlich mit mir eine Pizza hätte essen sollen und zur Verschiebung eines wichtigen Zahnarzttermins. Und dann verschiebt sich der Horizont: aus dem Zug schaut unser Dorf auf eine Art mondän aus und es gibt wunderbare Strände. Das ist einfach die richtige Distanz.
Der Schaffner gestikuliert bedrohlich: Es ist alles seine Schuld. Nein nicht die des Schaffners, die von Berlusconi, un venditore di fumo, eines Rauchverkäufers, heiße Luft würde man bei mir zu Hause sagen.
Ja, aber das Problem ist das Klonen, denn in der Region Kalabrien sitzt nicht das berlusce Wesen, sondern ein fescher junger Mann namens Scopelliti und wie man sich denken kann, wurde der gewählt. Und wenn Pierre in "Krieg und Frieden" auszieht, um Napoleon zu erschießen, wünsche ich mir, jemand würde zumindest das Regionsparlament besetzen.

Mittwoch, 15. Mai 2013

Forever young


Ich bringe die Jugendlichen zur Probe des Orchesters, dorthin, wo der begnadete Dirigent wirkt, der leider so nach Zigarren stinkt. Aber daran denke ich nicht, als ich den Hügel hinunter zum Meer fahre. Ich höre Radio und da ist ein Lied, das ich schon lange kenne: Forever young. Der Name der Gruppe fällt mir nicht ein, aber sie singen auch ein anderes Lied mit dem Titel "Big in Japan". Das Lied ist aus den 1980er Jahren. Ich kenne das Lied auswendig. Ich drehe lauter. Die Jugendlichen schweigen beschämt. Schon wieder einer der peinlichen Ausfälle der Mutter. Mit laut schmetterndem Radio Auto fahren. Oh nein, bitte nicht.
"Let us die young or let us live forever, we don't have the power but we never say never." Ein Schock breitet sich in mir aus: Es ist zu spät. Ich kann nicht mehr um die Gnade eines frühen Tods bitten, ich bin nicht mehr jung. Janis Joplin und Jimi Hendrix waren halb so alt wie ich, als sie gestorben sind. Mir wird heiß. Was hab ich in den letzten 25 Jahren gemacht und wieso kann ich nicht mehr sagen: Love hard, live fast, die young? Ich bin überrascht. Dass mir das erst jetzt auffällt!
Eine Gnade ist mir doch zuteil geworden, wenn man es als solche bezeichnen kann: abgrundtiefe Naivität. Ich glaube immer noch, dass alles möglich ist und sich das Genie in mir doch noch ausdrücken wird können. Manches, was möglich oder auch nicht ist, interessiert mich eh nicht mehr. "But we never say never."
Mit der 1980er Boygroup im Ohr stürze ich in die Orchesterprobe und klopfe inmitten der Kakophonie dem Schlagzeug-Prof. gegenüber deutlich auf die Uhr. Mein Ziel ist, zu signalisieren, dass ich echt keine Zeit habe und das gelingt mir ganz gut. Ich muss meine Kinder kaum mehr wohin verfrachten, das machen jetzt immer die Profs selber, weil ich eine Art Girlande der Hysterie und Gereiztheit um mich geworfen habe, die kaum jemand zu ignorieren wagt. Ich schwebe wieder weg, die Girlande wippt leicht, wie blasierte Kusshände, um mich. Weder der Dirigent, noch der Schlagzeuglehrer, noch der Schulwart werden in diesem Leben meine Geliebten sein und darüber bin ich sehr froh, denn als ich dem frühen Tod entgegeneilte hätte ich das auch noch unterbringen müssen und heute habe ich Zeit, "Krieg und Frieden", wenn schon nicht zu lesen, dann doch immerhin zu hören. Das hätte ich nicht gekonnt, wenn ich jung gestorben wäre.
Aber jetzt habe ich Angst, dass ich für immer leben muss.
Meine Mutter sagt: "So wie die Buben manchmal Fieber bekommen und danach gewachsen sind, geht es mir manchmal schlecht und ich entwickle mich rückwärts. Ich bin jetzt alt und hässlich." "Aber nein, hässlich bist du nicht." sage ich automatisch. "Doch", sagt meine Mutter.
"Let us die young or let us live forever." Ein Fluch, anyway.

Samstag, 11. Mai 2013

Pazienza

heißt auf italienisch Geduld und wird häufig gebraucht. Seit vielen Jahren versuche ich zu verstehen, ob Pazienza heißt: "Man muss Geduld haben, dann werden sich alle Probleme lösen.", oder ob Pazienza heißt: "Da kann man halt nichts machen."
Wenn ich zwei Mal pro Jahr das Zugticket in die große Stadt kaufe, wappne ich mich mit viel Pazienza. Ich muss dazu auf einen 20 Minuten entfernten Bahnhof fahren und ich weiß schon, dass ich das mehrmals tun muss, denn es klappt nie beim ersten Mal, aber immer passiert auf diesem Bahnhof etwas, was wert wäre, aufgeschrieben zu werden. Diesmal handelt es sich um den Aushang, den ich vor dem unbesetzten Schalter finde: Dieser Ticketverkauf ist vom 7.- 10.5 von 13:43 - 20:57 geöffnet. Da bekommt man Lust zu rechnen, stimmts? Und es ist tatsächlich keiner da um 12 Uhr. Es handelt sich um einen Aushang der Ferrovie dello stato, also kann man auch keinen abwesenden Schalterbeamten beschuldigen. Aber der Bahnhof ist groß, sonst wäre ich ja nicht hier. Kleinere Bahnhöfe sind ja schon lange mit nicht funktionierenden Self-Service-Ticket-Maschinen ausgestattet. Immerhin habe ich damit gerechnet und bin nicht weiter beunruhigt.
Ich will die frei gewordene Zeit nutzen und die Fotos von der Tanzveranstaltung im letzten Jahr abholen. Bezahlt sind sie schon, muss ich zu meiner Ehrenrettung sagen. Ich fahre eine Straße hinauf und bleibe vor großen Betonblöcken stehen. Dahinter befindet sich ein großer Erdhaufen, der auf die Straße gerutscht ist. Aha, daher kam mir das kleine Auto mit der erinnerungswürdigen Aufschrift "Nannini", das vor dem Bahnhof an mir vorbeigefahren ist, kurz darauf wieder entgegen. Noch einer, der nicht automatisch wusste, dass diese Straße gesperrt ist. Kein Schild weist auf die nicht benutzbare Straße hin. Wozu auch, wenn man davor steht merkt man es ohnehin und so eilig wird man's schon nicht haben, oder?
Auf einem Umweg gelange ich doch zum Fotografen. Sein Geschäft ist ein enger, langer Schlauch, in dem gerade zwei Personen nebeneinanders stehen können, wenn sie sich kennen. Unbekannte Kunden stehen hintereinander. Vor mir steht einer, zu dem der gutaussehende, wenn auch in die Jahre gekommene Fotograf, Tonino genannt, soeben sagt: "Das ist ein Grund! Mein Vater, dem INDAP (ich glaube, das ist die staatliche Pensionsstelle) 200 Euro Pension gibt und er sitzt im (pantomimische Darstellung eines Rollstuhls, der mit 80 kmh dahin fetzt)." Wofür das ein Grund ist, weiß ich noch nicht, aber als der andere Kunde den Laden verläßt, nachdem ich böse geschaut habe und Tonino mich auch böse angeschaut hat, erfahre ich es: "Man braucht ein Maschinengewehr. Finden Sie nicht?" sagt Tonino, während er die Fotos sucht. Da bin ich aber ganz seiner Meinung. "Ja, manchmal schon." sage ich zurückhaltend. Ich kann ihm ja jetzt nicht sagen, dass ich eine Pumpgun will, ich weiß nicht, auf wessen Seite er steht. "Anders geht's nicht mehr." Er durchsucht erfolglos die Reihen an Kuverts, die da lagern und ich bekomme Herzklopfen. Nicht meine schon bezahlten Fotos nicht finden, bitte! Er unterbricht seine Suche und wendet sich mir zu. "Ich sage nicht, dass der Mann, der auf die Carabinieri geschossen hat, recht hat." Aha, es gab also einen inspirierenden Vorfall. "Nein", sage ich. Soll ich sagen, dass Carabinieri auch nur Menschen sind? Tonino nimmt mir die Entscheidung ab und sagt: "Ich sage auch nicht, dass man wirklich schießen soll, aber man muss ihnen Angst machen. Timore!" Ich nicke. Ich habe Angst, dass er meine Fotos nicht findet. Mir ist immer noch nicht klar, wem er Angst machen will. "Wir Bürger sollten uns vereinigen und Gewehre nehmen. (Hat er gesagt "unsere" Gewehre?) Und dann stellen wir die Politiker in einer Reihe auf. Und dann werden wir ja sehen, ob sich die Polizei vor sie oder hinter sie stellt. Wenn sie sich vor sie stellt, dann heißt das: Krieg!" Ich nicke wie einer von diesen Spielzeughunden, die in den 70er Jahren auf den Autoablagen standen und ununterbrochen den Kopf auf und abbewegten. "Aber dann müsste man ihnen einen Katheter ansetzen!" sagt Tonino verächtlich. Wieso wechselt er das Thema jetzt zum Krankenhaus, denke ich, dann verstehe auch ich. Ich lache. Das feuert Tonino an: "Windeln muss man ihnen anlegen, weil sie sich anmachen werden vor Angst!" Ich weiß immer noch nicht wer, die Politiker oder die Polizei, aber ziemlich wahrscheinlich beide. "Die Carabinieri," sagt er und blättert wieder in den Kuverts herum, nachdem wir ein paar Varianten des Namens der Kinder durchgegangen sind, "die Carabinieri halten auf der Autobahn LKWs auf und konfiszieren Computer. Die behalten sie dann selber und geben sie ihren Kindern. Oder in der Schule. Zuerst bekommen die Professoren und ihre Kinder. Und wenn ich sage: und meine Kinder? Leider nichts mehr da." Klingt nach Albanien, stimmt aber wahrscheinlich.
Er hat die Fotos gefunden und knallt sie mir vor die Nase. Sie waren unter einer originellen Version des Vornamens des Kindes eingeordnet. Die Fotos sind gut, er ist ein guter Fotograf und jetzt macht er wieder das Zeichen des Durchladens eines Gewehrs. "Man kann nur schießen, sage ich. Habe ich nicht recht? Und dabei bin ich Demokrat!" Jetzt, wo ich die Fotos habe, mache ich mir Sorgen, dass ich den Autobus in die Provinzhauptstadt verpasse. Ich nicke jetzt rascher, in der Hoffnung, dass ich so schneller aus dem Laden komme. Aber Tonino weiht mich nun ein: "In unserer Stadt gibt es 2800 Grillini, Sie wissen schon, die Grillo gewählt haben. Ich sage zu ihnen: wenn wir unser großes Fest habe, warum stellen wir uns nicht schweigend auf die Straße, um zu protestieren. Aber nein, da ziehen sie sich lieber für 200 Euro, und wer weiß, wann sie die bekommen, eine Verkehrshilfe-Jacke an und pfeifen die Autos herum. Nichts haben sie gemacht. Also wundern Sie sich nicht, wenn ich finde, man kann hier Probleme nur mehr mit dem Gewehr lösen. Wie in Amerika." Auweia, jetzt hat er mir mein Argument, sollte ich aufgefordert werden, zu sprechen, aus dem Mund genommen und ich muss aufhören zu nicken. "Demokratisch, wie in Amerika. Mit der Waffe in der Hand, aber demokratisch." In seinen Ausführungen stellt er gerade Indianer und Weiße mit großen Gesten gegenüber, als ein alter Mann mit einem adretten blauen Blazer den Laden betritt. Am Revers trägt er eine Nadel, die für etwas steht, das Toninos Aufmerksamkeit erregt. "Donnerwetter, wie elegant..." beginnt er den Alten in ein Gespräch zu ziehen. Ich bin nicht beleidigt. "Arrivederci!" rufe ich fröhlich und laufe erleichtert auf die Straße. Das nächste Mal schießen wir in Gedanken weiter, Tonino.
Dem ist eindeutig die Pazienza abhanden gekommen.

Übrigens ist am Sonntag Muttertag und anlässlich dessen hat das Kind in seiner Klasse mir ein Zeugnis ausgestellt. Ich habe unverhofft gute Noten bekommen, vor allem die Bestnote in Sportlichkeit und Autofahren freut mich, für Geduld habe ich aber nur die Note 9 statt 10. Neben der Wertung hat das Kind eine Frau mit zu Berge stehendem Haar gezeichnet, aus deren Kopf Rauchschwaden dringen. Die Augen sind extrem vergößert, ich nehme an, es handelt sich um die Illustration des Satzes: Die Augen quollen aus ihren Höhlen. Ich trage dieses Urteil mit Fassung und immenser Pazienza.


Montag, 29. April 2013

Out of the blue and into the black

Die Datti muss in die große Stadt fliegen, wo sie erschöpft ankommt. Ihr Koffer kommt nicht an. In der alten Wohnung sind zum Glück Zahnbürsten, alle von den Kindern, aber ist ja egal. Nur der Pyjama vom Kind passt nicht mal mehr dem Kind, wie soll der mir passen? Auf der Autobahn, der italienischen, auf dem Weg zum Flughafen, überhole ich einen kleinen Lastwagen, er transportiert Artischocken. Ich möchte mich an jeder einzelnen Artischocke festklammern und ja nicht dieses Land verlassen. In meinem Kühlschrank vergammeln immer noch 5 Artischocken, aber diese, diese hier, die würde ich jetzt gleich verarbeiten. Wenn man mich fragt, wie es mir gefällt in Italien, nach so vielen Jahren, antworte ich neuerdings: Immer weniger. Aber sobald ich mich aus Italien fortbewege, scheint mir sogar Enrico Letta, der neu erkorene Ministerpräsident, ein Grund zu bleiben. Im Flughafenbus haut mich der Biergeruch der Menschen, die den Pass desselben Landes wie ich haben, fast um und ich frage mich, wieso sie alle barfuss in ihren Sandalen stecken, obwohl doch erst Ende April ist. Ich finde sie peinlich, aber ich weiß, es gibt auch die schönen und guten und weil ich ja endlich einmal alleine bin, schaue ich auf Facebook nach, was sie machen.

Wenn ich in Italien bin, habe ich eine ganz genaue Vorstellung vom Frühling in der großen Stadt und von der Sehnsucht, die man hier verspüren kann und von der Gewissheit eines Neubeginns und vom Geruch der großen alten Bäume. Man muss es nur schaffen, auch wirklich neu zu beginnen. Wenn ich dann hier bin,  habe ich eine ganz genaue Vorstellung von dem, was ich eben verlassen habe, die wachsenden Weichseln, der Hund, der mich durch den täglichen Spaziergang hetzt, während ich David Copperfield auf dem Eierphone häre, vom Gras, das der große Sohn geschnitten hat mit dem Grasschneidegerät, das ich in der vergleichweise kleinen Stadt reparieren habe lassen und in der ein solches Verkehrstohuwabohu herrscht, dass MM sagt: diese Stadt versteht, aus dem Nichts ein Chaos zu machen.

In Deutschland muss ich einen Zwischenaufenthalt einlegen und auch wenn es ungerecht ist, denn es ist nur ein beliebiger tödlich langweiliger Flughafen: ich möchte sofort zurück, möchte mich mit meinem ganzen Körper auf die Halbinsel werfen, möchte sogar der ungeliebten Mathematiklehrerin zurufen: Ich finde Sie originell, Maestra! Ich finde ich finde ich finde ich finde mich wie Thomas Bernhard, der sich überall ein wenig unwohl gefühlt hat, aber im Unterschied zu ihm fühle ich mich auf dem Weg von einem zum anderen besonders unwohl. Und ich muss sagen, dass mein Leben von den fahrenden Gemüsehändlern bestimmt wurde. Nichts kann mein Herz ähnlich entflammen wie ein kleines Fahrzeug, aus dem heraus Saubohnen und Zwiebeln verkauft werden. In den ersten Monaten meines Aufenthalts in Italien bin ich mit MM, der damals ein geheimer Liebhaber und kein Ehemann und Vater war, nach Palermo gefahren und da hat diese Sucht nach den Gemüselambrettas begonnen. Einige Zeit später war ich in Reggio Calabria und habe angesichts der Artischocken in den kleinen Lastwägen beschlossen, für immer in Italien und noch dazu im versifften Süden zu bleiben. Das Begehren ist immer geordneter geworden und ich besuche selbst den wöchentlichen Gemüsemarkt in unserem Ort selten, aber MM baut mit Sorgfalt Gemüse auf unseren 5000 Quadratmetern Erde an, was ich kaum zu würdigen weiß, wenn ich wie ein Mahnmal des Fleißes an meinem Arbeitstisch vor meinem Computer sitze und schreibe.

Kaum aber bin ich in der großen Stadt begehre ich sinnlos. Keine Artischocken, keine Saubohnen, sondern das alte wilde Leben, das ohnehin keiner mehr führt und das ich auf keine Weise wiederbekommen kann.

Ich habe einen Roman von Lily Brett gelesen mit dem sprechenden Titel: Lola Bensky. Am Ende ist Lola, die ehemalige Rock-Journalistin froh, dass Mick Jagger lebt und gut drauf ist, denn Janis Joplin, Jimi Hendrix, Jim Morrison und viele andere sind bereits verstorben. This is it: Seien wir froh, dass wir am Leben sind. Mit Artischocken und Saubohnen oder mit gatschigen Schuhen und Kinderspielzeug, was auch immer, möglicherweise nicht dem Mercedes, den Gott Janis Joplin hätte kaufen sollen und den er mir auch nicht kauft.