Samstag, 6. Februar 2010

Into the Wild

Trotz enormer Müdigkeit bin ich auch heute um sechs Uhr aufgestanden, da der Wecker um halb sechs Uhr läutete, und bin mit Kind und MM zur Baustelle gefahren, obwohl keine organisatorische Notwendigkeit bestand. Es tat gut, an einem Samstag dort zu sein, mit nur zwei Installateuren am Hämmern und dem Allroundstar aus der Nachbarschaft, der seit Tagen die Olivenbäume stutzt. Ich schwanke zwischen Verzweiflung und Enthusiasmus und MM versteht die Verzweiflung nicht. Er, der fast täglich hier troubles shootet, erwartet keine Verzweiflung von mir. Aber die unglaubliche Menge an Unfertigem, die immer noch große Menge an Schutt, die offen liegenden Schläuche überall, lassen eher verzweifeln als hoffen. Gleichzeitig sind aber echte Verbesserungen zu sehen. Auf dem Dach gab es bisher ein Mäuerchen, das jetzt weg ist, was dem Haus Größe verleiht und dem Auge Freiheit gibt. Die Treppe ist fertig ausgeglichen und es ist wirklich erstaunlich, wie leichtfüßig man jetzt auf ihr hochlaufen kann. In der ungeliebten Küche wurde auch eine Mauer umgerissen, was immer einen erstaunlichen Effekt hat, weil die Mauern einen Meter dick sind, und die Küche wirkt leichter, fröhlicher, und ich kann mir zum ersten Mal vorstellen, darin etwas buntes zu kochen.

Dann fahren wir in einen kleinen Weiler, ein paar Minuten entfernt, in dem der Mann wohnt, der im Sommer unseren Garten mit seinem Traktor umgegraben hat, und dem wir noch von damals Geld schulden. Seit kein Klo mehr in unserem Haus ist, habe ich die Natur der Umgebung studiert, und zu meinem Entstetzen festgestellt, dass alles, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so wirkt, bewirtschaftetes Land ist. Und dass überall Menschen wohnen. In Wirklichkeit teilen wir "the middle of nowhere" mit ziemlich vielen Leuten. Heute habe ich mein Paradies gefunden: nur ein wenig höher als unser Haus gelegen führt ein Sträßlein zu eben diesem Weiler, mitten durch die Natur, in die ich glaubte, gezogen zu sein, die sich dann eben voller Nachbarn entpuppte. Dort oben ist nichts außer Ginster, Felsen, Wasserfällen, Eichen und mickrigeren Bäumen, von Erdrutschen in Mitleidenschaft gezogenen Straßen, zum Teil ungepflastert, einem Steinbruch und herzigen wilden Blumen. Es gibt eine Quelle, die ein wenig oberhalb der Straße liegt, zu der man hochsteigt wie zu einem buddhistischen Tempel, unten an der Straße stehen Weiden und prall gefüllte Orangen- und Mandarinenbäume. Das ist die Oase in diesem von Gott und den Menschen verlassenen Abschnitt. Der Weiler, in dem noch drei Häuser bewohnt werden, heißt auf Deutsch "Verteidigung". Die 4x4 Pandas, mit denen hier alle fahren, haben extremes Profil an den Reifen, die Schuhe des Kindes vor dem Haus, das wir suchen, sind schlammig, es fährt stolz mit einem kleinen Fahrrad, das noch aus der Zeit seines Vaters zu stammen scheint. Die Mutter des Mannes erzählt uns, dass sie die Ofenrohre des Holzherdes putzt, was sie einmal im Monat tun muss, da die Rohre Kurven machten und sich dort Schmutz ablagert. Der Mann selbst ist "etwas erledigen", und seine Frau weiß nicht, ob er (mittags, nehme ich an) nach Hause komme. Obwohl es ganz ungewöhnlich ist, dass dieser Mann nicht erreichbar ist, da in Italien doch immer alle höchst wichtig an ihren zahlreichen Mobiltelefonen zu Gange sind, passt hier alles zusammen. Wir sind nur zehn oder fünfzehn Minuten von der Staatsstraße und gleichzeitig etwa fünfzig Jahre von dem raschen Leben dort entfernt.
An den Fenstern hängen getrocknete Paprikaschoten, ein freundlicher Sonnenschein versucht die seit Tagen aufgeweichte Erde zu trocknen. Der Wortoutput der Italiener sinkt mit steigenden Höhenmetern. Während in den Städten alle dauernd reden, wird in Hügelhöhe nur noch anfallsartig losgekreischt. Hier, wo man durchaus von Bergen reden kann, werden wir nicht zugetextet, sondern zuerst mißtrauisch begutachtet und dann interessiert eingeladen.

Unser Obermaurer stammt, glaube ich, aus diesem Weiler. Als er einen Lokalaugenschein für seinen Kostenvoranschlag in unserem Haus vornahm, habe ich ihn erst für einen Zeugen Jehovas gehalten. Später habe ich erfahren, dass er tatsächlich als Kind in einer Klosterschule war und Priester hätte werden sollen. Aber dann ist er Maurer geworden. Es müssen die Steine sein. Entweder man hasst sie, oder man liebt sie. Ich weiß aber nicht, ob ihm das klar ist, dass er Steine liebt.

Ich jedenfalls fühle mich besser aufgehoben. Ich mag es, wenn nicht offensichtlich alles zugeordent ist. Früher, als ich Gegenden bereiste, die ich gerne zu meiner Heimat gemacht hätte, wenn auch nur vorübergehend, habe ich mir immer die Frage gestellt, ob das Land den Menschen gehört, die es besitzen, oder denen, die es lieben. Ich weiß, nicht zuletzt aufgrund eines gescheiterten Kaufvertrags, dass alles besessen und alles aufgeteilt ist. Aber heute fühle ich seit langer Zeit wieder die Freiheit, ein Stück Land zu lieben und es als mir zugehörig zu empfinden.

P.S.: Manches wird aber erstaunlicherweise nicht besessen: in der Nähe unseres Hauses gibt es ein altes kleines Haus mit vermutlich umwerfendem Meerblick, das zwei Schwestern, zwei Lehrerinnen gehört hat, die beide seit etwa zwanzig Jahren gestorben sind. Heute weiß man nicht, zumindest erzählen das die Nachbarn, wem das Haus gehört, man kann es also weder kaufen noch verkaufen. Leider ist vor kurzem das Dach eingestürzt. Sicherlich gehört das Haus jemandem, es kümmert sich einfach niemand darum.

Freitag, 5. Februar 2010

Just a perfect day

Aus verschiedenen Gründen haben meine Kinder ein Verhältnis zur Religion, das erst seit kurzer Zeit besteht. Das führt zu erstaunlichen Unsicherheiten. Ein Kind fragt, angesichts eines Projekts in der Schule, das seiner Meinung nach "Anna Franka" heißt, ob wir Juden seien. Ein anderes Kind gesteht, dass es Jesus nicht einmal in seinem Herzen hört. Das kann ich gut verstehen, aber nach angemessenem Schweigen meine ich, für den Anfang sei es vielleicht schon genug, dass Jesus das Kind höre. Das Kind sagt, es hätte gebetet, für ein anderes Kind, das sich in der Schule den Kopf an einem Heizungskörpe blutig geschlagen hätte und dafür, dass die Puppe, die sich das Kind zum Geburtstag wünscht, eine Prinzessin sei. Ob Jesus Puppen zum Sprechen bringen könne? Ich denke an Pinocchio und sage nicht, dass ich glaube, Jesus interessiert sich nicht für Puppen . Dann sage ich, ich hätte gehört , dass Jesus Kranke heilte und aus Wasser Wein gemacht hätte und ich wisse nicht, wie er es mit Puppen halte.
MM musste heute auf das Begräbnis von Zio Luigi, was unseren Tagesablauf durcheinander gebracht hat. Ich war dankbar, dass ich trotz eingesprungenem Doppelaxel der Babysitterin nicht auf das Begräbnis gehen konnte. Begräbnisse hierzulande sind für mich so bewegend, dass ich anschließend eine Woche Krankenstand brauche. Noch dazu war Zio Luigi wirklich eine außergewöhnliche Person, und ich möchte ihn und nicht sein Begräbnis in Erinnerung behalten. Nachdem ich bei dem Begräbnis einer Tante von MM von der Familie zu einem Weinen angeregt wurde, das meiner Meinung nach unverhältnismäßig war, habe ich beschlossen, Begräbnisse und Hochzeiten auszulassen, obwohl ich das nicht super von mir finde. Sobald ich gelernt habe, weniger als die Witwe zu schluchzen, gehe ich wieder auf Begräbnisse.
Angesichts dieses Ereignisses fragte das Kind mehrmals, ob MM dem Zio Blumen gebracht hätte. Da wir uns darauf geeinigt haben, dass Verstorbene im Himmel sind, weilt jetzt auch Zio Luigi dort, was für uns sehr angenehm ist. In Süditalien findet ein Begräbnis innerhalb von 24 Stunden nach dem Tod statt, in diesen 24 Stunden kommen dann alle Verwandten und Bekannten und halten Wache neben dem Toten. Dann gibt es eine Messe und danach wird der Tote ziemlich unspektakulär in ein kleines Häuschen geschoben, denn aus mir nicht bekannten Gründen kommen hier die Toten nicht unter die Erde, auf dass sie zu Staube zerfallen können, sondern sie tun das in ihren kleinen Kojen. Wenn meine aus dem deutschprachigen Raum stammenden Freundinnen die Friedhöfe hier sehen, denken sie an kleine Puppenstädte, die der eigentlichen Stadt vorgelagert sind.
Da wir Zio Luigi noch am Sonntag gesehen haben, als er sich beklagte, dass er nicht sterben könne, fügt sich sein Tod wie ein Resultat in diese Woche ein, dass er nicht mehr ist, ist sicherlich ein Verlust.
Und all unsere Verluste werden annulliert durch die Zeit, die alles braucht, das wir zu tun haben, in der wir keinen Verlust, keinen Mangel spüren und nur darauf hinarbeiten, zu erreichen, was wir wollten, auch wenn diese Errungenschaften banaler nicht sein könnten: ich stehe 45 Min in der Post an, um 23 Euro für den Schulbus zu zahlen (war bis jetzt gratis) und 28 Euro für den Strom in unserem neuen Haus (da waren die Maurer mit ihren Presslufthammern und ihren Zementmischmaschinen und ihren Grubenlichtern doch recht sparsam). Zwei Menschen stehen hinter mir an, als eine Klosterschwester die Post betritt und erfreut auf eine Frau zueilt, die weiter vorne in der Reihe steht. Die beiden plaudern angeregt über Katechismus und Scouts, wie in Italien die Pfadfinder genannt werden, und die Klosterschwester kommt entsprechend früher an die Reihe, weil sie ihren Posten natürlich nicht aufgibt. Kein Mensch zuckt mit der Wimper. Ich stelle mir die selbe Szene mit einem afrikanischen Arbeiter vor.
Und dennoch liebe ich heute unseren neuen Ort hemmunsglos. Alles gelingt. Ich warte zwar 45 Minuten auf die Einzahlung, aber ich kann sie machen, es stürzt nicht eine Minute vorher das gesamte Betriebssystem der italienischen Post ab. Ich gehe in den Laden gegenüber, um eine Fotokopie für den Schulbusfahrer zu machen und außer dass die Kopie schief ist, geschieht nichts Furchterregendes. Ich protestiere im Supermarkt, dass mir diePreissenkung für den Ricotta nicht angerechnet wurde und der Mann an der Kasse gibt mir 76 Cent, auch ohne mit der Wimper zu zucken und vor allem, ohne mir das Gefühl zu geben, ich sei eine notorische Querulantin. Vor der Schmiedewerkstatt steht das Fiorino-Auto unseres braven Obermaurers, der versprochen hat, dem Schmied zu erklären, wie die Eisen für die Balkone gemacht werden sollen. Das haut mich um, ersten weil wir schon bei den Eisen für die Balkone sind, und zweitens weil es einen Menschen gibt, der macht, was er zugesagt hat. Gibt es einen Nobelpreis für Zuverlässigkeit? Nein, Nobelpreise will ich seit Obama nicht mehr.
Meinem Versuch, die Tickets für die Schulmensa zu kaufen, gehen zwar drei Rundfahrten durch den Stadtkern auf Parkplatzsuche voraus, aber dann gelingt mir auch dieses Unterfangen nach kurzer Wartezeit, was ich als Meilenstein in meiner persönlichen Geschichte verbuche, denn die Öffnunsgzeiten des Schalters sind gewiss nicht berufstätigen Menschen angepasst.
In der Apotheke wird das Teebaumöl bestellt und ist (angeblich) am selben Nachmittag da, heute ist einfach alles großartig und gekrönt wird dieser perfect day von der Tatsache, dass ich bei den vielen Kilometern, die ich dem Schulweg des Kindes zuliebe zurücklege, zweimal den gehenden Mann sehe, einmal um 11:28, da ist der auf dem Weg zu Wallfahrtsort und einmal um 14:15, zurück vom Wallfahrtsort, er bleibt auf der Straße stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. "Wie alt er aussieht!" stellt das Kind mit der Weisheit von Siebenjährigen fest. Er ist eben nicht alt, er sieht nur so aus. Warum eigentlich? Ich finde es fast infam, dass er sein Gehen unterbricht, um rauchen zu können, finde es ohnehin grauslich, dass er im Gehen raucht. Und dabei denke ich heute das erste Mal nach fast elf Jahren Nichtrauchen, dass ich wieder rauchen werde. Unser Haus wird fertig sein und ich werde den Gemüsegarten bestellt haben. Und abends, wenn das Licht weniger wird, was in unserer Lage früh ist (dafür gibt es Morgensonne, die wirklich nur von Menschen mit Schulkindern genossen werden kann), werde ich mich in die Wiese setzen und rauchen. Ich werde auf den Hafen schauen und jede Art von Sehnsucht wegblasen.

Dienstag, 2. Februar 2010

Sprengen!

Eigentlich bin ich eine Frau, die morgens hasst und sich im Lauf des Tages beruhigt. Es gibt aber Tage, an denen der Unmut sich während des Tages stets vergrößert, so dass dann abends nur noch der Wunsch nach Sprengung besteht. Vielleicht liegt diese Umkehrung daran, dass ich an diesen Tagen länger schlafe und daher die sechs Uhr Nachrichten versäume. Heute habe ich einen wunderbaren Vormittag mit meinem Kind verbracht, dass sich heldenhaft einer peinlichen Untersuchung seines Geschlechtsteils unterzog, die ein Arzt vornahm, der zu denen gehört, "die einen nicht einmal anschauen". Der Stoizisimus des Kindes überwog aber bei weitem den Abscheu, den der Arzt erzeugte und wir belohnten uns mit einer größeren Ausgabe in der Buchhandlung und einem anschließenden Besuch auf dem Spielplatz, einem dieser höchstens nachts von heroinsüchtigen Menschen frequentierten Orte. Ich entdeckte das Vergnügen, auf wackelnden Holzbalken zu gehen, die Freude, das Kind auf der Schaukel hochhüpfen zu lassen und dabei das Gefühl für meine Oberschenkel wiederzugewinnen, erinnerte mich daran, wie es war hoch zu schaukeln, wofür meine Beine komischerweise zu lang sind, obwohl sie das in Wirklichkeit nicht sind, und die Seligkeit auf einem Ringelspiel oder wie das heute heißt, die Augen zu schließen und immer orange zu sehen, wenn die Sonne aufs Gesicht kommt. Mit diesen freundlichen Gefühlen holten wir die anderen Kinder von der Schule ab und ab da ging's los. "Mamma hat euch ein Geschenk gemacht!" (Comix von Dragonball), Kind 2 sieht sofort die Unwürdigkeit ein, beschenkt zu werden: "Du musst aber etwas unterschreiben, weil ich nämlich vergessen habe, dir zu sagen, dass ich gestern Geometrie hätte lernen müssen."
Jetzt, nachdem dieser Tag überstanden ist, frage ich mich, wieso mich das aus der Bahn geworfen hat, aber in dem Moment war ich hochgradig verärgert, mehr, weil mein Plan aus dem Ruder lief. Wie soll ich einem Kind, das nicht Geometrie gelernt hat, Dragonballcomix schenken, was mach ich jetzt und wie gehe ich mit der Enttäuschung des Kindes um. Was ich hätte unterschreiben sollen, fand sich aber nicht mehr in der Schultasche, daher musste ich die Mathematiklehererin anrufen, die ich eigentlich hätte anschreien wollen, wieso sie mir meinen Tag so vergällen will. Mittlerweile hatte ich erfahren, dass alle Kinder in der Klasse den selben Verweis bekommen hatten, halb so wild also. Die Lehrerin ist eigentlich ok und ich habe sie nicht angeschrien. Das hätte sie sich wahrscheinlich auch nicht gefallen lassen. Das Kind war recht gelb im Gesicht. In meiner langen Rede über die Sinnhaftigkeit von Gedächntnis, Mitteilungsheften und dem Lernen von Geometrie kam auch der Satz vor, dass er, wenn es ihn schon nicht interessierte, bitte immerhin für uns lernen sollte, denn wir (sein Vater) würden ihm den Sonntag zu Verfügung stellen für diese (Scheiß-) Drei- und Vierecke, die er dann am nächsten Tag nicht wiederholte. Aus zwei Gründen hat mich der Gipfel meiner Rede sehr zufrieden gestellt: 1) war ich selbst in der Schule sehr schlecht in Geometrie, konnte keinen geraden Strich mit einem Lineal machen und merke mir bis heute nicht die Namen der Formen - daher alle Schuld der Geometrie an sich und 2) erinnerte ich mich an die Aussage eine Freundin, die ihren Kindern erklärte, sie würden schließlich nicht für die Eltern, sondern für sich selbst lernen, worauf die Mutter der Freundin, eine pensionierte Lehrerin, ihr erklärte, dass Kinder nicht für sich selbst lernen wollten, sondern eventuell, um ihren Eltern eine Freude zu machen.
Dieser Schachzug funktionierte, das Herz des Kindes wurde weich, es entschuldigte sich und weinte ein paar bittere Tränen in meine Achsel. Wegen der Gemeinheit der Romben und Parallelogramme oder weil der arme Papa so viel Zeit investiert hatte oder wegen dem verlorenen Dragonball werden wir nicht erfahren.
Beim Versuch, den Lernstoff nachzuholen, stellte sich heraus, dass auch das Geometrieheft, ebenso wie das Mitteilungsheft verschwunden war und als Schuldige wurde Schulkollegin Maria Rita genannt, die alles in ihre Schultasche gepackt hat. Ärger! Maria Rita hatte also meine Grundlage in ihrer Schultasche und ich versuchte mühsam mein Unwissen über die Benennung gewisser Winkel zu verbergen. Als Resümee dieses Tages kann ich sagen: ich kenne jeden Winkel, habe, glaube ich, endlich verstanden, was ein Trapez ist, habe zwei Gedichte auf italienisch auswendig gelernt, eines handelt vom Schnee, der weich und ohne Eile fällt, das andere von der Natur, die, weil sie nicht respektiert wird, ihre Scherze mit den Menschen treibt.
Ich habe mein Wissen über Vulkane bereichert und endlich begriffen, was ein complemento diretto (Frage: wer, was?) und ein complemento indiretto (mit Präposition) ist.
Der Arzt hat mir gesagt, dass das Kind operiert werden soll, was ich seit der letzten Erfarhung mit der Leber des andereb Kindes gelassen aufnehme. MM hat mit gesagt, dass das Zeugnis des Kindes, das meiner Meinung nach ein Genie ist, gar nicht genial ausfällt, was mich zum Weinen bringt.
Ich habe gehört, dass die Kinder meiner Freundin aus Rom hier sind und jeden Nachmittag schifahren, während ich meinen androhe, dass, wenn sie nicht mehr lernen, sitzen bleiben werden. In Italien sind nämlich keine Ferien.
MM kommt blass und gleichzeitig braun gebrannt von der Baustelle und in mir lodert die Eifersucht: Sonne, Menschen, Mittagspause mit Hulk genannten Maurern, Olivenbäume stutzen, wichtige Gespräche mit dem Obermaurer führen. Das alles wird nicht aufgewogen von der Buchhandlung, der Sonne auf dem Spielplatz, den Telefonaten mit der Mathematiklehrerin, dem von Nonna gekochtem Sugo auf der Pasta, anstelle der Panini, die mein Mann neben Hulk verzehrte. Möglicherweise bin ich nicht so arm, sondern selbstmitleidig und Tage, an denen ich die Erhaltung meiner Familie im konkreten Sinn als Hauptarbeit ansehen muss, entsetzen mich zutiefst. Daher setze ich zur Sprengung an: 1) das Gesundheitsambulatorium, 2) die Schule, 3) Maria Ritas Schultasche, 4) das Haus, in dem wir jetzt noch wohnen, auf dass das neue möglichst bald fertig wird.

Samstag, 30. Januar 2010

I'm sooo tired, I haven't slept a lot

Wie bekannt, beginnt mein Ärger um sechs Uhr morgens, wenn ich im Radio höre, dass die Italiener ein geringeres Durchschnittsgehalt als andere Bürger der OSZE Staaten haben. Dafür zahlen sie aber mehr Steuern und andere Abgaben, wie eben das "Ticket" bei ärztlichen Untersuchungen. In Italien ist praktisch nichts gratis oder inklusive, deshalb versuchen a) alle, was zu ergattern, b) alle, schlau zu sein c) alle, das System auszutricksen. Sehr wenige haben anderes zu tun und freuen sich dann über zufälligerweise geringe Kosten. Das sind wir. Unsere kleine Straße, die von der anderen kleinen Hügelstraße zu unserem Haus führt, wurde vor kurzem von einem Bagger vergrößert, indem er den Wildwuchs aus Wäldern und Wiesen entfernte. Der erbauliche Effekt entstand, dass wenn zwei Autos sich entgegenkommen, nicht mehr ein Auto zwangsläufig hundert Meter zu einer Ausweiche zurückschieben muss, sondern zwei Autos an manchen Stellen einfach passieren können. Dadurch werden manche Autofahrer einer gewissen Allmacht beraubt ("Moment, ich schieb zurück, ich kann das besser, ich kenn mich aus, Kleine!"), aber auch ein Gefühl von sozialem Leben geht verloren ("Danke, du bist echt nett, war super!"). Vor ein paar Tagen wurde ein Nachbar vorstellig und fragte MM, ob er sich an den Kosten für diese Verbreiterung und andere Verbesserungen (Schlaglöcher flicken, die man sportlich vermeiden wollte und dann doch mit einem Hinterrad hineinkrachte), beteiligen wolle. Der Anteil beträgt 50 Euro. Es muss viele Nachbarn geben, die da mitzahlen. Ja, wir bezahlen gerne 50 Euro für eine schöne Privatstraße, die wir mit anderen Nachbarn teilen.
Ich denke oft darüber nach, warum ich so gerne zu unserem Haus fahre, zu dieser unglaublichen Baustelle, in the middle of nowhere. Ich denke darüber nach, weil ich Angst habe, dass es aufhört. Im Moment habe ich dort nichts, außer meiner ADSL-Leitung, die nach fünf Monaten funktioniert und einem Telefon und Arbeitskleidung. Das, was uns gefallen hat, das Pittoreske, wird unserem Projekt, ein interessantes, lebenswertes und ökologisch vertretbares Haus zu schaffen, geopfert. Gewisse private Versatzstücke leisten Widerstand und werden von einem Ort zum anderen geschoben. Ein Bügelbrett der Vorbesitzerin zum Beispiel, das aus unverständlichen Gründen nie weggeräumt wurde, dient im Moment als Ablage für die bunten Thermostaschen , in denen die Maurer ihr Mittagessen und ihr Jause mitbringen. Eine Flüssigseife, die ich gekauft habe, stand auf einer Waschschüssel, die irgendwann abgebaut wurde, dann wurde sie auf die Treppe gestellt, die Treppe wurde jetzt aber verändert, weil eben ausgeglichen, und ich frage mich, wo die Flüssigseife hingekommen ist. Die Maurer fragen sich wahrscheinlich, wieso ich diese Flüssigseife nicht weggeräumt habe, aber in all dieser Veränderung, dieser Zerstörung, stand ich Flüssigseifen und Bügelbrettern und vor allem einer Plastikpflanze der Vorbesitzer entwaffnet gegenüber. Machtlos verfolgte ich, wie diese ihren Standort wechselten, dabei hätte ich zumindest die Plastikpflanze wirklich gern weggeschmissen. Aber die Tatsache, dass sie von einem Ort zum anderen übersiedelt wurde, gab ihr eine Lebensberechtigung. So wie der Apfelbaum mit den ungenießbaren Äpfeln, den MM abgesägt hat. Das war der härteste Schlag. Immerhin war es ein Baum. Aus den Äpfeln hätte ich schon was gemacht. "Er hat geblüht!" werfe ich MM vorwurfsvoll entgegen. Die Küche des Kindes (Alte Töpfe der Vorbesitzerin, mit denen das Kind hemmunsglos herumpritscheln konnte), wo ist die jetzt? Auch sie ist Teil der Versatzstücke, die von einem Ort zum anderen wanderten. Und wo bin ich in dem Ganzen? Pan Tau-artig versuche ich mich durch die Baustelle zu bewegen und schaffe es doch immer, einem eben gesetzten Türrahmen einen Tritt zu versetzen oder mir Zement ins Gesicht schleudern zu lassen. Eine Bekannte erzählt mir heute verständnsivoll von ihren Erfahrungen mit einer Baustelle: sie hätte immer ein paar Schuhe für die Baustelle im Auto gehabt (angesichts ihrer perfekten hochhackigen Lackschuhe durchaus verständlich) und hätte den Obermaurer gefragt, ob er ihr auch ein Gehalt auszahlen wolle, da sie doch immer auf der Baustelle sei. Sie kommt aus Neapel und sie kann so was sagen. Ich finde sie toll. Allein die Vorstellung, ich würde unserem fleißigen Obermaurer so etwas sagen, nachdem ich seinem liebevoll gesetztem Türrahmen einen Tritt mit meinen Baustellenschuhen versetzt habe, treibt mir die Schamesröte ins Gesicht. Es ist nicht zu ändern: in diesem Moment ist die Baustelle was für Männer. Ich versuche mich zu trösten. Wenn ich MM und seinen Kindern nichts zu essen geben würde, nicht dafür sorgen würde, dass seine Wäsche gewaschen wird und seine Kinder zur Schule gebracht und wieder abgeholt werden, plus am Nachmittag ihre Hausaufgaben machen, könnte auch er nicht auf Baustellen sein (für die er nebenbei vermerkt, ihm vom italienischen Gesetz erstaunlicherweise zugestandene Kinderbetreuungszeiten aufbraucht). Sollte ich je in meinem Leben einer andere Baustelle vorfinden, die betreut werden muss, werde ich von Anfang an andere Strategien anlegen und dafür sorgen, dass aureichend Mllimeterpapier in meinem Besitz ist, und dann werde ich den Maurern sagen, wo's lang geht. Nächstes Projekt: Schweinestall. Und dann werde ich ein Dixi-Klo auf die Baustelle schaffen lassen. Ob es so was gibt, in Süditalien?

Montag, 18. Januar 2010

was mich freut

Müsste ich eine Rubrik mit dem Titel "Was mich ärgert" schreiben, hätte ich täglich 24 Stunden Arbeit. Es begänne spätestens um 6 Uhr morgens bei den ersten Radionachrichten. Ich lebe in einem Land, das ausreichend Stoff für Ärgernisse liefert. Am Beginn meiner Rubrik stünden also kleinwüchsige Minister, die ein Gesetz einführen wollen, demzufolge Kinder mit 18 aus ihrem Elternhaus ausziehen sollen. Argument: er ist erst mit dreißig ausgezogen und konnte bis dahin nicht mal sein Bett machen. Caro Signor B., ich habe kein Interesse, meine Kinder länger als nötig an mich zu binden (zumal sie jetzt ein super Kinderzimmer mit tollem Ausblick auf Meer bekommen, das ich mir nach ihrem Auszug unter den Nagel reiße, um mindestens 2000 Krimis zu lesen), aber über das Bettenmachen reden sie gern mit meinem siebenjährigen Sohn, dem geht das auch auf die Nerven, doch ab und zu gibt die Tatsache, sein Bett gemacht zu haben, ihm das Gefühl, potent wie Hulk zu sein. Sehr empfehlenswert. Gesetze sollte man nicht aufgrund eigener Lebenserfahrungen entwerfen.
Ich will aber viel lieber die Rubrik "Was mich freut" schreiben, denn das geht sehr viel rascher, ist in weniger als fünf Minuten abgehandelt:
Mich freut, dass wir es schaffen, um zehn nach sieben das Haus zu verlassen und keiner ist bereits verärgert.
Mich freut, den Obermaurer zu sehen, der ruft: "Heute ist auch die Signora da, ciao Signora!", aber am meisten freut mich, dass ihm sein Hemd aus der Hose hängt.
Mich freut, dass nach fünf Monaten die ADSL-Leitung im rosa Zimmer funktioniert.
Mich freut dann eine Zeitlang nichts im speziellen, aber dann sehe ich den Mann, der geht, und das freut mich wirklich.
Mich freut dann insgeheim, dass ich mit meinen Kindern im Auto blitzschnell zwischen zwei Autos von Maurern durchpresche, das ist ein bisschen kindisch, aber meine Kinder lieben Speed Racer und ich mach mich manchmal gern wichtig.
Mich freut, dass die Kinder Mandarinen vom Baum essen und sich Mandarinen-Man nennen.
Mich freut, dass MM (nach Nachdenken) sagt, ich habe recht, wenn ich finde, dass wenn Menschen aus meiner Generation mit 24 Jahren geheiratet haben, das nicht besonders jung ist, sondern was mit dem Leben auf dem Land zu tun hat.
Mich freut, dass mir ein Freund schreibt, den ich seit mehr als zehn Jahren nicht gesehen habe und an den ich heute gedacht habe.
Mich freut, dass ein anderer Freund mir über e-mail den Inhalt der Festplatte eines Laptops schickt, dessen Existenz ich verdrängt habe.

Also eigentlich hat Minister B. recht, ich bin eines dieser Exemplare, die mit 18 von zu Hause ausgezogen sind, ich kann damals wie heute mein eigenes Bett machen und habe jeden Grund, ein lautes "Hurra!" aufs nachtschwarze Meer hinauszurufen, to whom it may concern.

Freitag, 15. Januar 2010

mit dem krankenhausordner kreise schließen

Am Montag habe ich den Ordner nicht bekommen, denn die Frau in der Direktion kam nicht. Unpraktischerweise hatte ich ein krankes Kind zu Hause, das ich erst in Obsorge der Putzfrau ließ, um ins Krankenhaus zu fahren, und anschließend bei der Babysitterin, die ich nach etwa 50 Anrufen auf die Mobilbox erreichte. Als sie kam, hatte sie verdächtig schwarze Haare, war sie beim Friseur gesessen, während ich vor der Direktionstür im Krankenhaus wartete? Neben mir wartete eine Frau mit gleich großem Kampfgeist. Ihr Sohn hatte einen Fuss gequetscht und man wollte ihm erst in drei Wochen einen Gips machen, oder den Gips in drei Wochen runter machen, ich habe sie nicht genau verstanden, aber mich zu einigen vernichtenden Bemerkungen über Ärzte hinreißen lassen. "Der Arzt schaut dich nicht mal an!" sagte die Frau. "Wenn sie nichts mit Menschen zu tun haben und nur Geld verdienen wollen , dann sollen sie sich doch einen anderen Job suchen." sage ich. Dann redet die Frau nichts mehr mit mir. Wir warten, bis man uns sagt, die Verantwortliche käme in 15, 30 oder 45 Minuten, je nach Auskunftsperson. Für mich in jedem Fall zu lang, denn die Putzfrau muss auch ihr krankes Kind von der Schule abholen und als dann die Babysitterin kommt, ist es halb eins, aber das ist egal, denn die Dame aus der Direktion war ohnehin nie gekommen. Ihrem Sekretär ist das unangenehm und er schreibt sich den Namen unseres Kindes auf, genauso falsch wie die Dame im Archiv, offensichtlich spreche ich ein O tatsächlich wie ein U aus. Seine Fingernägel sind sauberer, aber doch abgearbeitet, wie auch sein Gesichtsausdruck. "Kommen sie morgen wieder." sagt er seufzend und er fragt mich, ob ich aus der Stadt sei, und auf meinen nein meint er, ich könne auch vorher anrufen.
Das tue ich am nächsten Morgen und er sagt: "Sie können kommen." Und so geht alles seinen Weg und ich bin ihm immer noch das Gebet schuldig, das er von mir als Dank erwartete. An einem Finger trägt er einen Ring mit zwölf (?) Dornen, eine Art Rosenkranz, der bei ihm auch tatsächlich immer an einem anderen Finger steckte. Ich wusste nicht, dass Männer Rosenkranz beten, ich dachte eigentlich, das sei ein Privileg von Frauen über siebzig.
Mit dem heiligen Ordner für den ich nichts bezahlt habe, den die Frau im Archiv rausrückte, ohne dass ich sie sehen musste (das ist schon ein Gebet wert), fuhr MM mit dem Kind zum Leberguru. Wir waren auf alles gefasst, beginnend von "wir sehen uns nie wieder" über "Koffer packen und ab ins Spital" zu "wer spendet seine Leber?", nur nicht auf die Aussage: "ist alles ok!". Der Leberguru bat nur, nicht wissen zu müssen, welcher seiner Kollegen die Katastrophenmeldungen von wegen "gleich operieren" und "das Kind soll sich nicht heftig bewegen, sonst könnte die Zyste platzen" in die Welt gesetzt hat. Sollte die Zyste platzen, so sei das erfreulich, aber unwahrscheinlich. Man muss einmal im Jahr die Zyste anschauen und vielleicht irgendwann absaugen. Diese Auskunft hat nicht wenig Geld gekostet, aber zweifellos bezahlt man für good news lieber, oder?

Währenddessen werden in unserem Haus die letzten Runden eingeläutet. Zumindest was die Maurer betrifft, die mit großer Menschenanzahl und unglaublicher Energie seit dem 7. Januar sogenannte Iglus aufstellen, auf die dann die Böden gelegt werden, was eventuelle Feuchtigkeit verhindern soll. Die Gänge sind verputzt, Schläuche unter den Böden sind verlegt, Türrahmen aufgestellt, kleine Notfallsmauern, die sich im Lauf der Arbeit als notwendig herausgestellt haben, aufgezogen, ein kleiner Balkon zu dem vorhandenen hinzugefügt. Diesen schien der Obermaurer zu begießen. Es sah grotesk und gleichzeitig glaubwürdig aus. Ein Mann auf einem Balkon im Rohbau mit einem Kübel, schwapp schwapp, ich hätte schwören können, es war eine Gießkanne, aber es gibt nie Zeit für Feinheiten, denn da ist schon wieder ein kleiner Bagger zu betreuen, gutes neues Jahr, Freude, ebenfalls.

Seitdem sehe ich nur noch spätabends Fotos. Tagsüber messe ich Fieber, treibe das Kind ins Bett, schneide Anziehpuppen aus, versuche Reis Reis Reis als Lieblingsmahlzeit einzuführen, lese "Frau Holle" und "Hänsel und Gretel" vor, streune auf der Suche nach sinnvoller Arbeit, die dem Kind nicht auffällt, durchs Haus und seufze angesichts der Erkenntnis, dass ich eigentlich auf einer Baustelle leben möchte. Doch es geht vorbei. In einer Woche wird unser frenetischer Maurertrupp eine Pizzeria umarbeiten. Zwei Maurer bleiben uns erhalten, versichert uns der Obermaurer, aber die Sternstunden mit sieben Leuten und zwei Mischmaschinen an Bord sind vorbei. Dazu kommen noch die reduzierten Teams von Elektrikern und Installateuren, die Elektriker verlegen ihre Schläuche diskret und an die Arbeit der Maurer angepasst, die Installateure haben unauffällig Abflussrohre eingezogen. Alles nichts gegen die Hulks mit ihren Zementschleudern.

Und eines Tages werden Türen und Fenster kommen, die so groß sein werden, dass ein kleiner Kran kommen muss, was mir ein so großes Stirnrunzeln verursacht, dass der Obermaurer beruhigend sagt, auch ein paar Christen könnten diese Glasscheibe manövrieren. Hier sind Menschen nämlich noch Christen. Mit Nachdenken oder ohne? Und was bete ich also für den Sekretär der Frau aus der Krankenhausdirektion? Die Flügel, die ich für die Barbiepuppe gebastelt habe, fallen mir ein. Ich möchte ein paar Engel verschicken. Die Engel der weisen Voraussicht und der Diplomatie. Die uns nur das Gute sagen lassen und schnell "Pscht" rufen, wenn wir im Begriff sind, uns in einen Wirbel zu reden.

Freitag, 8. Januar 2010

auf der suche nach einem krankenhausordner

Ein Haus zu renovieren ist so, wie einen Film zu produzieren, meint MM, während er den Installateur und die Maurer koordiniert, den Bagger bestellt und den allround-Helfer einsetzt. Daher übernehme ich nach meinem Aufenthalt im Exil, der immerhin dazu gedient hat, Abstand zu gewinnen, einige seiner außerhalb des Hauses liegenden Aufgaben. Eine davon hat sich am Tag des Halloween aufgetan, als unser Kind eine 4 Meter hohe Mauer hinunterstürzte, auf einem Erdweg aufkam und anschließend zwei Tage im Spital verbrachte, wo man feststellte, dass es keine Verletzungen von diesem Sturz davongetragen hatte, dafür aber eine Zyste auf der Leber hat, die ein Viertel der Leber bedeckt und gleich operiert werden sollte. Da wir aber vor Operationen lieber noch einmal tief Luft holen, lebt das Kind seitdem völlig unbehelligt und schmerzfrei wie bisher und wir versuchen, den besten Arzt zu finden, nachdem uns das Spital, in dem die Diagnose gestellt wurde, enttäuscht hat. Heute wollte ich den Ordner mit den Untersuchungsergebnissen (Ultraschall, Röntgen, Bluttest) in unseren Besitz bringen und dachte, das könnte ich in der Direktion des Krankenhauses tun. Dort standen viele Menschen und ich fragte eine Frau, ob sie in der Reihe angstellt sei. Was ich brauche, entgegnet sie und ich antwortete, dass ich einen Ordner abholen wollte. "Das machen die nach 10 Uhr, vorher gibt es nur Bluttests", mischte sich geschäftig eine auf einer Bank sitzende Ordensschwester ein. Ich wollte bereits meinen Tagesablauf umorganisieren, als mir der Gedanke kam, dass diese Ordensschwester möglicherweise aus einer professionellen Deformation heraus Auskünfte gab, für die sie gar nicht kompetent war. Es gab aber auch einen Informationsschalter, an dem ein Mann saß, der zweifellos weniger vertrauenswürdig als die Schwester aussah und mich vom Erdgeschoss in den dritten Stock schickte. Dort fand ich die Abteilung für Orthopädie und begann, gereizt zu werden. Zwei Krankenpfleger schoben ein Bett durch den Gang. "Entschuldigen Sie, ich wurde in den dritten Stock geschickt um einen Ordner abzuholen" sagte ich und nahm an, sie würden verständnislos schauen, aber sie lotsten mich ungerührt nach rechts ganz hinten. Und dort befand sich zu meiner Überraschung das Archiv, vor dessen geöffneter Tür ich ein wenig wartete und schließlich eintrat, worauf eine gepflegte Dame aus einem Badezimmer trat. "Guten Morgen, ich möchte eine Krankengeschichte abholen." - "Haben sie das Ticket bezahlt?" - "Ticket?" frage ich. Natürlich weiß ich, dass Patienten in Italien für jede Leistung eine Art Selbstbehalt, eben ein Ticket zahlen (was heißt Patienten - wir zahlen das, die meisten haben irgendeinen Schmäh, um davon befreit zu sein. Manchmal finde ich Beamte, die mit mir Mitleid haben, weil ich offenbar die einzige bin, die das Ticket bezahlt, und die denken sich dann für mich einen Schmäh aus. Ich finde es auch ok, für Untersuchungen zu zahlen, aber wofür soll ich jetzt noch zahlen, die Untersuchungen sind gemacht und bezahlt, muss ich das Papier zahlen, in dem sie aufbewahrt sind?). "Haben sie einen Antrag gestellt?" wird die Dame ungeduldig. Nein. Ich diktiere den Namen des Kindes, den sie falsch einträgt, dann gibt sie mir das Blatt mit einem Kugelschreiber, der den Geist aufgibt, als ich unterschreibe. Ich muss jetzt ein Ticket bezahlen und dann wieder kommen. Wielange dauert es dann, bis ich den Ordner mitnehmen kann, frage ich. Das kommt darauf an, ob der Ordner bei ihr ist oder noch in der Abteilung, sagt sie und macht einen folgenschweren Fehler für unsere ohnehin etwas ruppige Beziehung. Sie steht auf und geht zu einem Kasten, öffnet ihn, da stehen vier dicke Ordner und in dem vom Oktober sehe ich gleich den Namen (wieder falsch geschrieben, aber diesmal anders) meines Kindes. "Da - das ist er!" sage ich hoffnungsfroh. Sie setzt sich. "Gut!", sagt sie, "dann dauert es zehn Tage." Ich bleibe sehr freundlich. "Wieso?" - "Was, wieso?" - "Wieso nehmen sie nicht diesen Ordner und geben ihn mir?" Sie holt Luft: "Signora!" sagt sie drohend und da schwingt ein wenig von "gleich hol ich jemanden mit der Zwangsjacke!" mit, "Signora, es dauert zehn Tage!". "Warum dauert es zehn Tage, einen Ordner aus einem Kasten zu nehmen", sage ich mit unerschütterlicher Höflichkeit. "Da ist er!" schiebe ich nach. Sie klopft auf zwei Papierstöße, die im Vergleich zu denen auf meinem eigenen Schreibtisch sehr übersichtlich sind. "Warum soll ich ihnen einen Ordner früher geben, als jemandem, der am 4. Januar eingereicht hat!" Hier verpasse ich leider die passende Antwort, die gewesen wäre: "Weil ich ihn brauche", aber irgendwie sehe ich diese Ungerechtigkeit den anderen gegenüber durchaus ein. "Und außerdem ist meine Verantwortliche nicht da, sie muss das unterschreiben. Und sie ist nicht da! Schon seit drei Tagen!" Schwingt da ein wenig der Vorwurf von wegen Sodom und Gomorrha mit? "Wenn meine Vorgesetzte unterschreibt, kann es auch weniger als 10 Tage dauern, sie können anrufen." Eigentlich bedeutet das meinen Sieg, denn ich habe mir erwartet, dass sie, um mir etwas zu Fleiß zu machen, es 14 Tage dauern lässt. "Verstehen Sie?" "Ja", sage ich, "jetzt verstehe ich. Auf Wiedersehen!" "Sie müssen wiederkommen!" ruft sie mir nach, vielleicht ahnt sie schon, dass ich im Begriff bin, auf diesen Krankenhausordner zu verzichten, weil es mir vergleichsweise einfach vorkommt, neue Röntgenbilder anzufertigen. Dann habe ich die gute Idee, den Sekretär des Lebergurus anzurufen, zu dem ich das Kind bringen will, daher eben die Notwendigkeit des Ordners. Ich erkläre ihm die Situation, er sagt mir, ich soll ihm gut zuhören und schickt mich zu einer Frau, deren Namen ich mir merke, weil er einer Region Italiens entspricht, in der ich immer schon Urlaub machen wollte. Aber die Frau mir dem schönen Namen ist in der Direktion. Ist sie die abwesende Vorgesetzte? Ich sage ihrem Sekretär, worum es geht. Heute ist Freitag, der Termin beim Leberguru ist am Dienstag. Achso, naja dann. Er sagt, ich soll am Montag wieder kommen, und auf irgendeine Art werde ich zu meinem Ordner kommen. "Unmenschliche Leute" brummelt er, als ich ihm sage, dass aber doch zehn Tage dauern sollte. Er hat braune Ränder an den Fingernägeln. Vielleicht hat er gestern Unkrauft gejätet. Ich gehe an der Ordensschwester vorbei, die immer noch auf ihre Blutabnahme wartet.
Auf dem Parkplatz winke ich dem zahnlosen selbsternannten Parkplatzwächter zu, dem ich mein letztes Kleingeld, 40 Cent, gegeben hatte und der mir dafür ein Armband mit ca. 14 Mal dem Konterfei von Padre Pio geschenkt hatte. Ich fühle mich wie das leberkranke Kind, wenn es vor seinem Computerspiel sitzt und schwer vor Aufregeung atmet. Nur ein Weg führt zum Krankenhausordner. Werde ich ihn rechtzeitig finden?