Sonntag, 4. März 2012

Una domenica normale


Ich lese gerne blogs, in denen es um die Organisation des Alltags geht und das ist ganz weit entfernt von dem, was ich selbst mitzuteilen habe, denn die Menschen, die diese blogs schreiben, wirken klar strukturiert im Kopf und packen das Leben mit einem gerüttelt Maß an Optimismus an. Von mir also braucht keiner zu befürchten, ich sag ihm wie's geht und schon gar nicht in Punkten aufgelistet.

BUT

Heute hatte ich eine Erkenntnis, die der Welt nicht vorenthalten bleiben darf. Der Inhalt dieser Erkenntnis lautet: "Sonntage gehören vorbereitet." Seit ich denken kann, dachte ich, dass Sonntage freie Tage sind, ergo super. Wenn wer am Sonntag arbeiten will, dann macht er das, um in Ruhe und in seinem eigenen Rhythmus etwas aufzuholen, was er unter der Woche nicht geschafft hat, aber abgesehen davon hat man am Sonntag einen Lenz. Diese Philosophie mochte möglicherweise gültig sein, bis die Kinder in mein Leben getreten sind. Seither sind Sonntage der maximale Marathon, MM sehnt den Montag herbei, um endlich arbeiten gehen zu können, um sich ein wenig zu erholen. Im Lauf der Jahre habe ich gelernt, auf der Welle zu bleiben und es zu schaffen, den Pyjama vor dem Mittagessen abzulegen und ich bin schon soweit, dass ich auch an einem Sonntag dusche. Trotzdem hat dieser Kampf gegen die Natur nichts mit "Tag des Herrn" oder "Renew your spirit" zu tun. Möglicherweise wollte die Bibel darauf hinweisen, dass es sich um den Tag meiner drei minderjährigen Herren handelt und das Erneuern meines Geistes liegt in der verzweifelten Suche nach dem passenden Sonntags-Mantra.

Dabei sind die Jungs nicht sonderlich anspruchsvoll, anspruchsvoll bin ohnehin nur ich. Sie würden auch bis Mittag schlafen, anschließend zwanzig Nutellabrote verspeisen und gäben sich gerne mit einem schlichten Freizeitprogramm bestehend aus TV, Nintendo und Computer zufrieden. Was den sonntäglichen Frieden stört ist der Anspruch in mir, demzufolge man am Sonntag irgendwie etwas Originelleres essen soll als an anderen Tagen und dass man etwas gemeinsam unternehmen soll, auch wenn dies nur der Spaziergang mit dem Hund ist. Dazu kommt, dass der Sonntag geheim (er weiß nur nichts davon) zum Turn-Over-Tag erklärt wird. Alles, was unter der Woche nicht gelernt wurde, kann am Sonntag gelernt werden, all die Wäsche, die unter der Woche nicht gewaschen wurde, wird am Sonntag gewaschen, aufgehängt, abgenommen, zusammengelegt und verteilt. Und da fünf Paar menschliche Füße mit einigen Socken bestückt werden und ich im Winter als Allheilmittel rufe: "zieh dir ein zweites Paar Socken an", gibt es viel zu waschen, aufzuhängen, abzunehmen, zusammenzulegen und zu verteilen.

Regelmäßig ändere ich um 11 Uhr vormittags meine optimistischen kulinarischen Phantasien, in denen es meistens Pasta al forno gibt, in Pasta mit irgendwas. In meiner Kindheit hat meine Mutter am Samstagvormittag immer die Wohnung aufgeräumt, am Samstagnachmittag einen Kuchen gebacken und am Sonntagvormittag die Schuhe ihrer Familienmitglieder geputzt. WIE BITTE HAT SIE DAS GEMACHT?
Ich möchte meinen Kindern auch den Hafen einer Familie bieten, in denen es Sicherheiten wie einen Samstagsnachmittagskuchen gibt. Ehrlich.
Aber bei mir wollen alle dauernd mit mir reden. Ich bin im Pyjama und alle reden. Alle stehen früh auf, um zu reden. MM spricht. Das Kind kommt nachschauen, ob ich noch schlafe. Ja Freunde, ich stehe jeden Tag um sechs Uhr auf und da ich vor dem Einschlafen Krimis von Andrea Camilleri  lese, auf sizilianisch wohlgemerkt, bei denen man nicht so schnell aufhören kann, brauche ich den Sonntag auch als Turn-Over-Tag. Einmal in der Woche muss auch ich acht Stunden schlafen, und solange der italienische Unterrichtsminister nicht den Samstag frei gibt, oder meine Kinder nicht mehr in die Schule gehen, wird das der Sonntag sein.
Die großen Jungs reden erst nach dem Frühstück. Ich möchte auch, dass sie reden, sie sollen ja Geschichte, Geografie, Naturwissenschaften, Italienisch, Englisch und Französisch wiederholen.
MM ist dann bereits im Garten. Heute hat er die Olivenbäume beschnitten. Er erwartet sich keine Hilfe mehr. Und ich erwarte mir nicht, dass er sich dafür interessiert, wieviel Liter Wein in der Zisterne bleiben, wenn ein Weinbauer 3000 Liter Wein entnimmt, was bitteschön 7/22 der Gesamtmenge sind. Und wieviele Flaschen füllt er ab, wenn die Flaschen 0,75 Liter enthalten? Im nächsten Beispiel wird in einer ligurischen Gemeinde geplant, 50 Oleander zu pflanzen, das sind 5/12 der bereits gepflanzten Oleander, außerdem 14 libanesische Zedern. Das sind 2/15 der bereits gepflanzten Blablabla, ich nehme an eine Oberbegriff für Zedern aus den Nahen Osten. Was rauchen genau diese Mathematikbuchschreiber? Kann ich das am Sonntag zu Frühstück haben? In Form von Tee? Ich rauche nämlich seit 13 Jahren nichts mehr.
Das würde mir möglicherweise helfen, ein seliges Lächeln aufzusetzen, während mein heiliger Sonntag dahinrast. Und die Mathebuchschreiber möchten bitte auch zur Kenntnis nehmen, dass eine ligurische Gemeinde der Meinung des Rallyefahrers nach ein leicht verschmutzte Gemeinde ist (klar, die brauchen ein wenig Behübschung) und keineswegs ein Ort in der Nähe von Genua.

Nota bene: hier gehen die Leute auch in die Kirche. Wie organisieren sich die? Wann machen die Kinder die Hausübungen? Wann schieben sie die Pasta ins Rohr? Wann hängen sie die Socken auf? Wann beschneiden sie die Olivenbäume? Um wieviel Uhr schmeißen sie sich vom Pyjama in den Domenica-Look? Andrerseits: vielleicht würde es auch mir helfen, ein paar stärkende priesterliche Worte aufzunehmen, ich hätte einfach noch den Pyjama unter dem Gewand an.

Zweite Anmerkung: manchmal gibt es Sonntage, an denen der  Event-Faktor noch höher sein soll, als ein gemeinsamer Kinobesuch. Auweh, dann muss schon an Samstagnachmittag gelernt werden, ohjeh, dann wird am Samstagabend gekocht und danach rennen wir eine Woche lange mit violetten Ringen unter den Augen dem nächsten Sonntag entgegen.

Dritte Anmerkung: dass ich das überhaupt schreiben kann, liegt daran, dass die Menschen mit dem Y-Chromosom im Kino sind und sich eine Verfilmung eines Jules Verne-Romans anschauen, in dem irgendwer dreidimensional auf eine geheimnisvolle Insel fährt. Ich hab's nicht so mit dem Abenteuer, ich bin eher für's Verbrechen und mit dem 3D hab ich's schon gar nicht, weil ich ja, wie hier bereits besprochen, alt werde.

Die jüdische Religion ist gescheit, da wird die Vorbereitung des Kulinarischen im Vorfeld abgehandelt, am Shabbat hat man dann Zeit zu beten und zu essen. Ich sage zu MM: die Sonntage gehören vorbereitet, ab dem Freitag schon, aber er weiß es besser: von Montag bis Freitag ist der Sonntag vorzubereiten. Nächsten Sonntag können mich dann alle permanent anquatschen, die Kinder, der Mann, die Nachbarn, die Freunde. Meine Pasta wird im Rohr sein, meine Socken aufgehängt und die Christen werden die Araber im 11.Jahrhundert hoffentlich bereits am Samstag besiegt haben, auf dass am Sonntag endlich auch ich meinen Geist erneuern kann.

Freitag, 2. März 2012

Marco tanzt

Von einem Moment auf dem anderen ist der Frühling ausgebrochen und tut so, als ob er Sommer wäre. Ich bin gealtert, finde ich, und ich hoffe, man riecht es nicht. Ich sehe die ersten jungen Paare, die sich zusammen auf ein Mäuerchen am Meer setzen und ich denke weder an vergangene, noch an zukünftige Liebhaber, sondern daran, dass ich keine Einkaufsliste geschrieben habe und was ich jetzt einkaufen soll. Ich denke nicht, wie immer zu dieser Jahreszeit, an die Männer, die ich bis letzten Frühling meinte, nie zu lieben aufgehört zu haben, sondern versuche, früh schlafen zu gehen, um mein Leben als Managerin dreier schulpflichtiger Buben zu meistern, ohne dabei ausfällig zu werden.

 Lucio Dalla ist gestorben, was gar nicht zu diesem unverschämten Sonnenschein passt. Gäbe es Lucio Dalla nicht, hätte es ihn nie gegeben, wer weiß, ob ich heute hier wäre. Vielleicht wäre ich nie in Italien angekommen, wenn ich nicht versucht hätte, herauszufinden, was "permalosa" heißt, was nämlich Anna ist, die doch ist, wie viel andere und mit Marco "grosse scarpe poca carne" tanzt. Cuore in allarme. So ist das, wenn ein Poet stirbt. Und ich bin hier und fahre am Meer entlang, das Kind schläft wie üblich seinen nachmittäglichen Tiefschlaf, während wir uns der wunderschönen Zahnärztin nähern, die mit Blick auf die Insel ordiniert. Bevor das Kind einschlief, hat es wieder lang gesungen. Es will nicht mehr in einer nie existiert habenden Sprache singen, sondern in einer nicht existierenden. Hier wir die kindliche Poesie reduziert, schließlich ist das Kind schon zehn. Dafür erzählt es auf dem Heimweg, es hätte einen Aufsatz geschrieben, in dem alles richtig war, kein einziger Fehler in der Choreografie. Beglückt erzähle ich von diesem lapsus linguisticus seiner Tanzlehrerin, die zu meiner Freude lacht und es als "deformazione professionale" bezeichnet.

 Im Radio höre ich die Doors und Jim Morrison bittet das Baby, sein Feuer anzuheizen. Das müsste ich auch aus dem Fenster schreien: "Come on baby, light my fire."

 Aus beruflichen Gründen sitze ich heute einem Staatsanwalt gegenüber, was mich sehr erfreut, denn vor kurzem habe ich den letzen Roman des begnadeten Autors und Staatsanwalts Gianrico Carofiglio gelesen, dessen Werke oft im juristischen Milieu angesiedelt sind. Mitten im Genuss dieser aktenschwangeren Atmosphäre überkommt mich plötzlich der lähmende Gedanke, dass wenn er mich schwören lässt, ich sagen muss, dass ich nicht an Gott glaube. In diesem Moment finde ich mich sehr alt. Aber er lässt mich nicht schwören und ich finde mich nur noch naiv.

 Doch nicht mehr so naiv, wie noch vor ein paar Wochen. Als ich meinte, die Schule des Kindes korrigieren zu müssen, die uns mit zu wenig Informationen versorgt. Ich meinte, einen Kreuzzug für bessere Transparenz veranstalten zu müssen. Der Schuss ging nach hinten los: "Wer soll sie informieren, Signora, wenn nicht ihr Sohn?" Nun haben wir eine Art Aufforderung zu einem Ausflug bekommen, für den die Schüler X Euro zahlen müssen, für ein Mittagessen Y Euro. Die Summe für den Transport ist unbekannt, wird aber natürlich ebenfalls in Rechnung gestellt werden. Für mein teutonisches mathematisches Empfinden fehlt hier ein wesentlicher Faktor zur Entscheidungsfindung und mein teutonisches Rechtsempfinden telefoniert bereits mit der Schuldirektorin. Da werde ich von meinem neuen, alten kalabresischen Ich gebremst. Können Menschen, die unklare Angaben zu einem Ausflug machen, auf mein Kind aufpassen? Mein sehr individuelles kalabresisches Ich sagt: Das Kind muss nicht mit einem Motorboot mit durchsichtigem Boden durch ein Meernaturschutzgebiet fahren. (Obwohl ich mir das schön vorstelle, allerdings nicht mit der Mathematiklehrerin). Und so nimmt das Kind nicht am Ausflug teil, ganz einfach, ohne Kreuzzug. "Bist du traurig?" frage ich das Kind. "Es geht." Mir tut das Kind leid. Ich wäre gerne unkomplizierter. Aber ich kenne eine andere Mutter, die davon überzeugt ist, ihr Kind wird bei diesem Ausflug ins Meer stürzen, ins Meer gestoßen werden oder auf jeden Fall irgendwie im Meer landen, weil niemand auf ihr Kind aufpassen wird. Und die Frau kommt aus Reggio Calabria und muss nicht zwanghaft wie ich über die Abrechnung nachdenken. Ich stelle meinem Kind in Aussicht, den Ausflugstag mit dem anderen deprivierten Kind zu verbringen. Das Kind steigt nicht richtig darauf ein. Aber das wird schon noch kommen.

 Ich denke, ich habe einen Haufen von diesen unbeholfen "wie ein Pferd" tanzenden Marcos kennengelernt, und ich wünsche mir, dass meine Söhne nicht zu dieser Truppe gehören, aber sie müssen es zwangsläufig. Ihre Mathematikprofessorin sagt: "Ich versteh das gar nicht, die gehen doch in Break Dance, aber am Faschingsfest wollten sie gar nicht tanzen." Der Rallyefahrer sagt: "Ich versteh das gar nicht, wie die das schaffen, zu tanzen, ohne sich zu schämen. Wir sind doch erst im ersten Jahr. Auch die Mathematikprofessorin hat hemmungslos getanzt." Ich versteh das auch alles gar nicht.

 Die Idee, dass ich so alt bin, ist mir heute im Autobus gekommen, als eine Frau neben mir auf die Frage, "Wie geht es dir, Tante?" antwortete: "Es wird immer alles beschwerlicher." Wenn ich an meine gleichaltrigen Freundinnen denke, dann kommen mir die weder alt, noch beschwerlich vor, aber bald könnte es so werden. Jetzt, wo wir schon ohne Lucio Dalla sind. Vielleicht liegt es auch nur am Rallyefahrer, der täglich alles Vertrauliche seiner "Verlobung" berichtet. Seine Verlobte, die ihm Herzen zeigt (auf die Art wie unsereins noch komplizierte Texte in Stummerlsprache geschrieben hat), ist auf der besagten Faschingsfeier weinend aufs Klo gegangen und den Rallyefahrer lehnt alle meine Interpretationsversuche (weil du nicht tanzen wolltest bis zu: es gibt einen anderen und er hat gedroht, ihr den Schädel zu spalten, wenn sie dir noch mal ein Herz zeigt) als deppert ab, aber er weiß auch keine Interpretation. Nachts kann er nun nicht schlafen, weil er an sie denken muss. Das führt zwangsläufig dazu, dass er Fieber bekommt und zu Hause bleiben muss. Hier spielt er inbrünstig Flöte und geht hinaus, um mit seinem Rohrstab gegen imaginäre Heerscharen (Griechen oder Trojaner) zu kämpfen. Heute war er wieder in der Schule. "Und was hat deine Verlobte gesagt?" "Willkommen zurück." "Möchtest du deine Verlobte zum Geburtstag einladen?" fragt MM den Rallyefahrer. "Ich glaube nicht, dass sie gerne aufs Land kommt." antwortet der Rallyefahrer. Während aus meiner Gurgel die Worte dringen: "Dann solltest du sie besser vergessen." sagt MM gewandt: "Sie muss ja nicht gerne aufs Land kommen, aber sie wird sicher gerne zu dir kommen." Deshalb sollte man heiraten und deshalb ist es super für Kinder, wenn sie zwei Elternteile haben. Auch wenn die männlichen Teile immer auf ihre Art Marco sind.

Freitag, 10. Februar 2012

It's in a diary

Heute hätte ich fast drauf geschissen, heute war ich in Cosenza bei meiner Lehrerkollegin, es schneite auf der Crocetta und am Nachmittag habe ich außer die Jungs ein wenig bei den Aufgaben betreut, das Kind zum Tanzen gebracht. Das klingt eigentlich alles harmlos, aber es besteht aus vielen gleichen Worten: "Junge 1 nimm jetzt dein Musikheft, Junge 2, nimm jetzt dein Italienischbuch!" und so geht es ganz lang. Ich bin müde. Es ist sehr kalt in diesen Tagen und ich würde gerne einen fetten Guglhupf essen, am liebsten beim Hawelka. Aber der alte Hawelka ist tot, ist eh über 100 geworden und der Schurli Danzer ist auch tot. Die Leute, die nach Cosenza fahren mussten, haben zum Teil auch drauf geschissen und sind wieder heimgegangen. Ich habe mich auch gefragt, ob ich Chaos produziere und ob ich es schaffen werde, rechtzeitig wieder an die Küste zu kommen, um meine Kinder um halb vier von der Schule abzuholen und was ich tun würde, wenn ich es nicht rechtzeitig schaffen würde. Ich dachte, ich würde irgendeinen unserer tüchtigen Nachbarn anrufen, denn die Mütter von den neuen Schulkollegen kenne ich noch zu wenig und ich habe eigentlich keine Telefonnummern. Zweimal musste ich heute schon an den feschen Nachbarn Settimio denken, wahrscheinlich weil ich einmal im Auto hinter ihm fuhr, heute hat er den Sohn zum Autobus gebracht, normalerweise fährt dieser allein auf einem knatternden Moped, ohne Sturzhelm eh klar. Jedenfalls habe ich dann beschlossen, dass meine Reise den Aufwand lohnt, denn ich musste mir ein Lehrmaterial holen für etwas, das ich nächste Woche vier Tage auf Sizilien unterrichten werde und ich sage jetzt nicht was. Der Autobusfahrer war auch tüchtig und fuhr im Schritttempo über den verschneiten Berg. Die Studenten und Studentinnen, die im Autobus saßen, erfuhren während der Fahrt, dass der Universitätsrektor den Tag unterrichtsfrei gegeben hatte, eben wegen dem Schnee. Keine Prüfung. Das brachte auch keine Farbe in die blassen Gesichter. Einige beschlossen, mit genau diesem Autobusfahrer wieder an die Küste zurückzukehren, denn immerhin hatte der bewiesen, dass er es einmal geschafft hatte. Obwohl für die Stadt VIER Zentimeter Schnee angekündigt waren und mir MM riet, auch gleich wieder (mit dem selben Busfahrer) nach Hause zu fahren, waren dort nur die Straßen nass und alles funktionierte ganz normal. Auch ein Cornetto Crema Amarena konnte ich in der Bar San Francesco bestellen, das hatte ich auch dringend nötig, denn auf der Fahrt hatte ich viele Fotos gemacht und mit dem Gedanken gespielt, diese auf Facebook zu veröffentlichen und davon war mir ein wenig schlecht. Aber ein Guglhupf beim Hawelka wäre besser gewesen. Auf der Fahrt sah ich ein paar Autos fahrerlos auf der Fahrbahn stehen, die waren aber nicht für immer verlassen, wie in Rom, sondern nur kurz, denn die Männer halfen sich gegenseitig, die Schneeketten anzulegen. Sie tun immer so unbeteiligt, die Kalabresen, in Wirklichkeit aber sind sie wie mein Wiener Postbeamte, der anfänglich wie der übelst gelaunte Mensch auf diesem Planeten wirkt und der, nachdem ich drei Mal eine Überweisung falsch ausgefüllt habe, ein wenig auftaut, und sagt: "Wichtig ist doch nur, dass ich Sie länger hier bei mir habe." Ich bin bestürzt, tröste mich aber mit dem Gedanken, dass er das wahrscheinlich meiner 80-jährigen Mutter auch gesagt hätte. So sind die Kalabresen nicht, sie haben keinen Wiener Charme, der aus dem Keller kommt. Aber wenn sie helfen müssen, dann tun sie das auch. Deshalb hätte ich auch ohne lange zu überlegen, einen unseren Nachbarn angerufen, um die Jungs auszulösen. Das war zum Glück nicht nötig, denn ich kehrte problemlos nach Hause zurück und auch MM war zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort, nämlich vor der Schule. Als alle zu Hause ankamen, erfuhr ich, dass Percussion, der Grund, warum die Kinder bis um halb vier in der Schule waren, nicht stattgefunden hatte, denn der Professor konnte wegen des Schneefalls nicht anreisen. Komisch, dass ich trotz des Schneefalls alle meine Verpflichtungen absolviert hatte, aber gut, das mag genetisch bedingt sein und ist auch nicht das Problem. Das Problem ist, meiner Meinung nach, dass die Jungs mich nicht angerufen haben. Der 14-jährige brummt: "Aber du warst doch in der Stadt." Ich bitte ihn, in Zukunft, nicht für mich zu denken, sondern mich auf dem Laufenden zu halten, denn ich war genau in dem Moment 50 Meter von der Schule entfernt, als der Unterricht NICHT stattgefunden hatte. Meine Kinder haben also aktiv Zeitvernichtung betrieben, während mir gleich die Tränen kommen, weil ich sie in weniger Zeit durch ihre Hausübungen hetzen muss. "Verstehst du das?" frage ich MM und er erklärt mir leicht genervt, dass sich die Kinder eben verantwortlich fühlen und dass ich Stress mache. In diesem Moment hasse ich ihn aus tiefstem Herzen, beneide meine Lehrerkollegin, die mir die Geschichte ihrer Trennung erzählt, während sie ein fein säuberlich gefaltetes Handtuch akkurat in den Händen hält, das sie mir geben will, bevor ich in ihrer Wohnung aufs Klo gehe. Zum Glück muss ich nicht so dringend aufs Klo, dass ich mir in die Hosen mache, denn die Geschichte ist lang. Aber jetzt ist sie alleine und keiner sagt ihr, dass sie gestresst ist und diesen Stress auf ihre Kinder überträgt. Und ich denke wieder an den feschen Settimio, der bei Ritas Hochzeit getanzt hat wie ein Discostar, der in den späten siebziger Jahren seinen Einstand gefeiert hat. So wie ich eben. Bei ihm sind es vielleicht auch die frühen Eighties. Und ich bin keineswegs beschämt darüber, denn ich weiß, dass MM Settimios Ehefrau verehrt, weil sie mit einem Traktor eine Steigung im Rückwärtsgang hinauffahren kann, während ihre Mutter auf der Ladefläche sitzt. Zum Schluss sind wir eben alle ein wenig tüchtig, ich vielleicht weniger, aber doch auch.

Donnerstag, 26. Januar 2012

Poesie des Alltags

Die Moderatorin einer Radiosendung verspricht ein Gespräch mit einer Autorin, die Poesie des Alltags verfasst. Das interessiert mich ungeheuer, denn einen Alltag habe ich auch und ich bin begierig darauf, zu erfahren, wie ich demselben Poesie abringen kann. Leider beginnt es im Autoradio nun laut zu rauschen, das ist immer so, in diesem Abschnitt des Wegs, den wir zur Zahnärztin fahren, immer auf diesem langen Stück am Meer entlang, rechts liegt eine unverbaute Ebene, bevor die steilen Berge beginnen. Verdammt, werde ich das nie erfahren, wie es mit der Poesie und dem Alltag ist. Das Kind schläft auf der Rückbank und atmet schwer. Es hat noch seine hellblaue Schulschürze an und schwitzt. Manchmal leuchtet sie ja auf, einen Moment lang, die Poesie. Zum Beispiel, wenn ein Lied ausklingt, in dem der Sänger von seinem unbeschuhten Herzen singt. Il mio cuore scalzo. Genau so. Vielleicht ist es auch sein barfüßiges Herz. Oder das Kind, das immer selber singen will, bedient sich ungewollt der Poesie. Es singt in einer nie existiert habenden Sprache und möchte dann aber bitteschön immer einen Titel zur Inspiration bekommen. Ich bin dabei nie sonderlich inspiriert, meine Titel lauten dann immer so ähnlich wie: "der erste Stern am Himmel" oder "mit dir spüre ich die Kälte weniger", wenn nicht einfach:"der Tag geht zu Ende, die Nacht bricht an." Das Kind ist damit nicht immer zufrieden und dichtet selbst: "La malinconia può creare amore", die Melancholie kann Liebe schaffen. Wenn das nicht poetisch ist. In dem Buch, das ich gerade lese, geht es um Schiffe, die mitsamt ihrem radioaktiven Müll versenkt werden, aber selbst in diesem Werk gibt es einen Satz, der mich poetisch dünkt. Der Reporter, der Held des Romans, wurde mit seiner neuen Liebe, einer Umweltschützerin, in eindeutigen Situationen fotografiert und diese Fotos wurden veröffentlicht, um ihn und seine Berichte in Misskredit zu bringen. Nun hält er sich von der Frau fern, er muss Distanz schaffen, denn "il silenzio l'avrebbe protetta, allontanata dai rischi e ridato a lei giorni e abitudini." Die Stille würde sie beschützen, die Gefahr von ihr fernhalten und ihr die Tage und die Gewohnheiten wiedergeben." Tage und Gewohnheiten. Das erinnert an das Lieblingslied des Kindes von den Bee Gees "Oh you're a holiday..." Im aktuellen Alltag, in den aktuellen Tagen und Gewohnheiten, geht es wenig poetisch her. Meine pädagogischen Sternchen habe ich mir wütend heruntergerissen, mein Zorn ist im Moment gegen die Kunstlehrerin gerichtet. Von den Telefonaten mit meinem Ehemann und meinen Wutausbrüchen erschöpft, komme ich in das sonst so klösterlich stille Vorzimmer der Tanzschule, um das Kind abzuholen. Dort sind die anderen Mütter mit erhitzten Gesichtern am Debattieren. Ob wir uns am Freitag sehen, hängt von den Tankstellen ab, ha, wer hat das Glück, einen vollen Tank zu haben? Die Geschäfte und Supermärkte sind leer. Tatsächlich. Die Leute kauften Mehl und Bohnen, Dinge, die sie sonst nie kaufen. Es gibt keine Milch, es gibt bald auch kein Brot mehr, denn wir haben zwar jede Menge kleine Bäcker in der Umgebung, aber wenn kein Mehl und keine Hefe angeliefert wird, können sie auch kein Brot backen. "Dann essen wir halt das, was wir im Tiefkühlschrank haben", sagt eine optimistische Mutter. "Entschuldige, aber wir können doch nicht jeden Tag Huhn essen!" erwidert eine andere. Ich hoffe auf noch ein paar Tiefkühlschrank-Coming outs und überlege, ob ich unter Folter zugeben würde, dass in meinem Tiefkühlschrank noch die Zwetschken vom Vorjahr, nämlich dem wirklichen Vorjahr, sind, und dass ich auch Brot eingefroren habe, um im Notfall gedenke, meine Familie mit Brot und Zwetschkenmarmelade zu ernähren. Wenn ich mir etwas wünsche, dann meist, in einem einsamen Wald in Kanada zu leben. Was hätte ich dort in meinem Tiefkühlschrank? Es ist unangenehm, zu wissen, dass der Despar da unten leer gekauft ist und nichts Neues geliefert wird, weil die Lastwägen protestierenderweise die Straße blockieren. Und wenn wieder was geliefert wird, wieviel wird es kosten? Jetzt verstehe ich auch, wieso keine Sticker mehr kommen, die doch meine Kinder dauernd kaufen wollen. Das Album ist schon ganz verwaist. Signor Bossi fordert meinen alten Freund Silvio auf, die Regierung jetzt aber zu stürzen, andernfalls wird die Regierung der Lombardei, geführt von einem Parteikollegen Silvios gestürzt. Mir fehlt Silvio. Früher war alles so surreal. Und man dachte immer, dass es nur besser werden kann. Aber Silvio will Monti nicht stürzen. Und Bossi sagt, Silvio ist "una mezza cartuccia". Was ist das jetzt wieder? Eine halbe Tintenpatrone? Halb ist auf jeden Fall schon ein Kompliment. Ein Viertel hätte auch gereicht. In meinem kanadischen Wald würde ich Poesie verfassen. Auf meinem süditalienischen Hügel mache ich mir Sorgen.

Dienstag, 24. Januar 2012

Es ist soweit

Ich warte ja seit Jahren auf bürgerkriegsartige Zustände. Anders kann ich mir nicht vorstellen, dass das hier ausgeht. Signor Berlusconi ist in den Hintergrund gerückt, aber wir sind vom Regen in die Traufe gekommen. Während man sich in der deutschen Sprache das Wort Traufe nicht so richtig vorstellen kann, sagt man auf italienisch: Caduto dalla padella nella brace. Aus der Pfanne in die Glut gefallen. Wir armen Würstchen. Signor Monti schnallt unseren ohnehin schon im letzten Loch geschlossenen Gürtel noch enger. Er macht also eine Art Knoten in den Gürtel, damit wir nicht die Hose verlieren. In der ersten Fernsehsendung, die ich bei mir zu Hause nach viereinhalb Jahren sehe, sagt Andrea Camilleri, der Erfinder von Commissario Montalbano, gerade: Diese Regierung bedient sich an den Armen. Die Armen haben zwar wenig Geld, aber dafür gibt es viele davon. Ich bin versucht, wieder an die Kraft der Television zu glauben. Salute, Signor Camilleri, der liebe Gott möge ihnen noch viele Jahre schenken. Während der Werbung schalten wir um und sehen das Ende eines Fernsehfilms, "L'ultimo Padrino", in dem es um die Verhaftung des viele Jahre lang gesuchten Mafiabosses Bernardo Provenzano geht (der ganz schlicht in einer Hütte von Schafhirten gelebt hat). Michele Placido spielt den Boss. Besser war er nur im "Caimano" von Nanni Moretti. So gefällt mir das Fernsehen. Und es führt mich zu Marco Risi zurück, ohne den ich vielleicht gar nie in den Süden Italiens gekommen wäre. Im Sizilien von "Mery per sempre" (einem Film von Marco Risi über ein Jugendgefängnis in Palermo) ist der Verkehr durch den "Aufstand der Heugabeln" lahm gelegt. Und der Protest der Frächter und Bauern gegen die hohen Treibstoffpreise greift jetzt auch auf den "Kontinent" über. Ich habe die Kinder in die Tanzstunde und in den Schlagzeugunterricht gebracht und eile meiner Freizeit entgegen, die darin besteht, ein Paar Turnschuhe (bitte rutschfest für Break dance, bitte mit weißer Sohle, sonst bleiben auf dem Tanzboden schwarze Streifen)Größe 44 (Nein, Signora, Nike sind klein geschnitten!) auf Größe 43 umzutauschen. Schon das erste Gespräch (bei dem ich noch im Geschäft namens "Seifenblasen" bin, um die Putztabletten für die Zahnregulieung zu kaufen, beunruhigt mich: "Und alle an der Tankstelle..." "ja, die Tankwarte haben einen Streik angekündigt, der 10 Tage dauern soll, oder sogar eine Woche (Sic!)", "Nein, ich tanke nicht, aber bei Lo scoglio haben die Lastwägen die Straße blockiert, da musste man einen Riesenumweg machen." "naja, mal sehen, aber das mit dem Streik künden die Tankwarte ja schon lange an.") Tatsächlich, ich war deshalb nämlich sehr wohl tanken, am Vorabend, mit zwei Autos, während meine vier Männer vier Tische und drei Computer im Haus rochiert haben. Das zweite Gespräch belausche ich im Einkaufszentrum, in dem ich mit meinem Paar Schuhe Größe 44 (in 43 gibt es sie nicht, da müssen Sie Reebok nehmen, Signora, die kosten auch nur 14 Euro mehr...)etwas planlos herumwandere und die Worte "eine Riesenschlange vor der Tankstelle", bedeuten nicht, dass eine Boa entkommen ist, sondern beziehen sich auf viele Autos, das weiß ich genau, ich hab das nämlich auf der Herfahrt gesehen. Ich rufe MM an, der im Autobus sitzt und die Kinder abholen soll. Ja, alle tanken. Ich fahre wieder Richtung nach Hause. Die Schuhe erscheinen mir nicht mehr so wichtig. Ich sehe die Riesenschlange, die sich auf der Superstrada, ungefähr einen Kilometer von der Tankstelle entfernt gebildet hat. Bei einer anderen Tankstelle ist die gleiche Szene zu beobachten, nur haben sich hier die Autos brav an den Straßenrand gestellt. Ich schaue auf meine Tankanzeige. Der Tank ist zu drei Viertel voll. Ich weiß überhaupt nicht, warum die Leute jetzt alle tanken, aber ich überschlage, was ich alles NICHT machen muss, wenn es keinen Treibstoff mehr gibt. Als erstes verzichte ich auf meinen Besuch bei der Klassenlehrerin der großen Kinder. Dass sie von Grammatik wenig Ahnung haben, weiß ich auch so. Als letztes gehen meine Kinder nicht mehr in die Schule (nämlich dann, wenn der Schulbus nicht mehr fährt). Ich erinnere mich, warum wir eigentlich ein Haus gekauft haben, warum wir ein wenig Land haben wollten und warum wir dankbar sind, dass wir eine Wasserquelle haben. Seit ein paar Jahren verfolgt mich ein Bild: ich fahre mit dem Auto, am Straßenrand droht mir ein Typ mit zerlumpter Kleidung mit der Faust. Der Typ könnte aber auch ich sein. Die Leute tanken, weil es kein Benzin geben wird, wenn die Lieferanten streiken. Jetzt gibt es kein Benzin mehr, weil alle getankt haben. Grazie, Signor Monti.

Donnerstag, 19. Januar 2012

Dauerbrenner: First Love

Ich habe eine Phase pädagogischer Vorbildlichkeit. Den Rallyefahrer, der seine Jeans samt Mobiltelefon beim Break-Dance vergessen hat, schreie ich nicht an, sondern fordere ihn auf, in der Tanzschule anzurufen, um zu fragen, ob es seine Hose noch gibt. Er ist übrigens am Vortag in einer Trainingshose nach Hause gekommen, sonst hätte vielleicht irgendwer gemerkt, dass die Hose fehlt. In der Tanzschule wird die Hose gefunden und während der große Bruder "Assassin's Creed", ein Spiel mit einem gräßlchen Namen auf dem Nintendo spielt, darf der Rallyefahrer mit mir in die Tanzschule fahren und die Hose holen und anschließend auch gleich ein Anmeldeformular aus der Schule, welches ebenfalls vergessen wurde. Der große Bruder fühlt mir die Stirn: "Du bist viel zu ruhig." Ich muss Fieber haben.

Habe ich aber nicht, und ich will abends sogar aus der Iliade vorlesen. Da sagt der große Bruder, der sonst ein extremes Mitteilungsbedürfnis hat ("Mama, ich geh jetzt aufs Klo!"), achja, er hätte das Buch an Elisa weitergeborgt, die hätte etwas nachlesen müssen. Achja. Ohne pädagogische Orden auf der Schulterklappe hätte ich gesagt: "Bist du verrückt? Aus diesem Buch lese ich doch vor." Oder:"Kann Elisa in so einem Fall vielleicht ihre Mutter fragen, ob sie ihr das Buch für 9 Euro 90 kauft?" Oder: "Und warum sagst du mir das nicht?" Der Antworten gäbe es viele, aber es handelt sich schließlich um jene Elisa, die im Zusammenhang mit dem Sohn die Luft zum Vibrieren bringt. Und da das Mitteilungsbedürfnis auch vor ein paar Wochen schon so groß war, dass ich in Kenntnis der Tatsache gesetzt wurde, dass a) Elisa immer schöner wird, b) Elisa bei der Geburtstagsfeier von X das Haar offen trug, sage ich jetzt nichts.
Ich hoffe, Elisa liest mit wallendem Haar von der schönen Sklavin Briseide, deren Verlust den armen Achilles schluchzen ließ.

Kritik kommt ohnehin aus den eigenen Reihen: "Und deshalb gibt es heute keine Lektüre!" faucht der Neunjährige den Großen an. Der Neunjährige wiederum meint, der Häßlichste in seiner Klasse zu sein, denn ein Mädchen aus seiner Klasse fände den Sohn des Rechtsanwalts schön.

Attraktion ist etwas höchst individuelles. Wie sehen Sie das, Dr. Freud? Als ich im Alter des großen Sohns war, habe ich mit offenen Augen viele Stunden davon geträumt, dass mich ein gewisser Bursche küsse, was dieser dann auch getan hat. Ich glaube, ich habe damals schon gewusst, dass der gewisse Bursche nicht dem Schönheitsideal entsprach und auch sonst keine erwähnenswerten Vorzüge hatte. Ehrlich gesagt, er war eher hässlich, hatte eine lange Nase und zotteliges Haar und über seine intellektuellen Fähigkeiten breitet sich ein großer Mantel des Schweigens. Sein Kuss schmeckte nach Extrawurstsemmel und ich war davon überzeugt, dass man den Kuss auf den Lippen sehen konnte. Ich muss gleich im Spiegel nachschauen, vielleicht bleibt der erste Kuss ja für immer sichtbar.

Mittwoch, 18. Januar 2012

Von Männern und Mäusen

Vor nicht allzu langer Zeit mussten meine großen Kinder für die Schule Statements zum Thema Information abgeben. Planlosigkeit. "Na wo bekommt ihr denn eure Informationen, wenn ihr etwas wissen wollt, Neuigkeiten, etc." "Wir fragen dich!" "Und ich? Woher beziehe ich Information?" "Du fragst Papa!"
Das bin ich, so sehen mich meine Kinder.

Und natürlich steckt in diesem kolossalen Irrtum ein Körnchen Wahrheit, wie ich gestern feststellen musste. MM kommt um zwanzig nach sechs mit den verschwitzten Break-Dancern nach Hause und verschwindet. Irgendwann begegnen wir uns wieder, das passiert, meistens in der Küche. "Ich repariere deinen Stecker. Ich habe mir vorgenommen, jeden Tag eine Sache zu tun, so habe ich am Ende der Jahres 365 Dinge getan." Dieses Jahr sogar 366, das nenne ich Lebensphilosophie. Ich wusste gar nicht, dass ich einen kaputten Stecker habe, ich habe mich daran gewöhnt, meine Nachttischlampe mittels eines zehn Meter langen Verlängerungskabels in Betrieb zu setzen.
Freundlicherweise unterbricht er die Tätigkeit des Tages, um beim Abendessen Information zu verbreiten. Der Kapitän des untergegangenen Kreuzschiffs hat nicht als letzter das Schiff verlassen, wie es sich gehören würde, und die ganze Kreuzschiffgeschichte hat verhindert, dass wir etwas Entscheidendes erfahren haben, nämlich: dass in Sizilien der Aufstand der Heugabeln ausgebrochen ist. Die Menschen protestieren gegen die hohen Treibstoffpreise und haben den Verkehr zum Erliegen gebracht. Das gefällt mir.
MM hat auch Informationen aus allererster Hand: Roberto Benigni bekam an der Universität von Kalabrien einen Doktortitel honoris causa und MM war dabei. Benigni bezeichnete den Süden Italiens als den Kopf Italiens und dass man den nicht abschlagen solle (haben Sie gehört, Signor Bossi?). Da passen doch die Sizilianer mit ihren wüstenhaft verlassenen Straßen gut dazu. Die Kinder sind mittlerweile zum Tom und Jerry Cartoon zurückgekehrt und das Kind ruft: "Papa, sie haben die chinesische Mauer zerstört!" "Die Armen" ruft MM freundlich zurück. Niemand fragt nach, wer arm ist, alle sind zufrieden und MM, der, wie mir erstmals auffällt, eine Furche in der Nase hat, erzählt weiter, wie Benigni meisterhaft und sympathisch den Störversuch eines Typen aus einem TV-Programm mit dem sprechenden Titel: "Die Hyänen", in sein Programm einbaut. Der Typ singt irgendeinen alten italienischen Hadern, Benigni läßt sich stören und singt mit. Der Typ gibt auf. "Entschuldigen Sie," sagt er zum Publikum, "wir haben nicht geübt, das nächste Mal wird es besser!" Tom und Jerry ist zu Ende, die Kinder wollen noch CSI sehen. "Papa, das willst du doch auch!" rufen sie, in der Hoffnung, ihrem Wunsch werde stattgegeben. Der Informationsträger eilt auf das Sofa vor den Fernseher.

Wir haben seit mehr als vier Jahren keinen TV-Empfang. Die CSI-Folgen stammen aus einer alten Sammlung, als wir noch amerikanische TV-Serien-Junkies waren.
Vor ein paar Tagen hat die Klassenlehrerin der großen Kinder die Direktorin in die Klasse gebeten, um den Schülern, die keine Hausübungen machen, die Leviten zu lesen. Meine Kinder wurden bei der Gelegenheit öffentlich gelobt und es wurde betont, dass meine Kinder nicht einfach den ganzen Tag fern sehen, sondern sich am Abend (nachdem sie die Hausübungen gemacht haben, bittesehr!) einen Film anschauen. (Zum Glück weiß sie nicht, dass es sich, wenn schon nicht um CSI, dann um Filme mit Jugendverbot wie Mean Streets oder Rambo handelt).
Just an diesem Tag hatte ich eine Antenne gekauft. Meine Kinder befürchten, sie können jetzt am Abend keine Filme mehr sehen. Neinnein, schaut nur weiter eure DVDs, das Fernsehprogramm werde ICH konsultieren und abends gebe ich euch ein paar Informationen weiter.
Normalerweise lese ich den Kindern jetzt abends die Geschichte der Iliade vor, aber gestern war ich zu müde (zu viele Informationen...), und während ich mich Morpheus Armen ergab, nahm ich entfernt wahr, dass MM seine Tagessache zu Ende brachte und meine Nachttischlampe umsteckte.
Oh Captain, my captain...