Freitag, 2. März 2012

Marco tanzt

Von einem Moment auf dem anderen ist der Frühling ausgebrochen und tut so, als ob er Sommer wäre. Ich bin gealtert, finde ich, und ich hoffe, man riecht es nicht. Ich sehe die ersten jungen Paare, die sich zusammen auf ein Mäuerchen am Meer setzen und ich denke weder an vergangene, noch an zukünftige Liebhaber, sondern daran, dass ich keine Einkaufsliste geschrieben habe und was ich jetzt einkaufen soll. Ich denke nicht, wie immer zu dieser Jahreszeit, an die Männer, die ich bis letzten Frühling meinte, nie zu lieben aufgehört zu haben, sondern versuche, früh schlafen zu gehen, um mein Leben als Managerin dreier schulpflichtiger Buben zu meistern, ohne dabei ausfällig zu werden.

 Lucio Dalla ist gestorben, was gar nicht zu diesem unverschämten Sonnenschein passt. Gäbe es Lucio Dalla nicht, hätte es ihn nie gegeben, wer weiß, ob ich heute hier wäre. Vielleicht wäre ich nie in Italien angekommen, wenn ich nicht versucht hätte, herauszufinden, was "permalosa" heißt, was nämlich Anna ist, die doch ist, wie viel andere und mit Marco "grosse scarpe poca carne" tanzt. Cuore in allarme. So ist das, wenn ein Poet stirbt. Und ich bin hier und fahre am Meer entlang, das Kind schläft wie üblich seinen nachmittäglichen Tiefschlaf, während wir uns der wunderschönen Zahnärztin nähern, die mit Blick auf die Insel ordiniert. Bevor das Kind einschlief, hat es wieder lang gesungen. Es will nicht mehr in einer nie existiert habenden Sprache singen, sondern in einer nicht existierenden. Hier wir die kindliche Poesie reduziert, schließlich ist das Kind schon zehn. Dafür erzählt es auf dem Heimweg, es hätte einen Aufsatz geschrieben, in dem alles richtig war, kein einziger Fehler in der Choreografie. Beglückt erzähle ich von diesem lapsus linguisticus seiner Tanzlehrerin, die zu meiner Freude lacht und es als "deformazione professionale" bezeichnet.

 Im Radio höre ich die Doors und Jim Morrison bittet das Baby, sein Feuer anzuheizen. Das müsste ich auch aus dem Fenster schreien: "Come on baby, light my fire."

 Aus beruflichen Gründen sitze ich heute einem Staatsanwalt gegenüber, was mich sehr erfreut, denn vor kurzem habe ich den letzen Roman des begnadeten Autors und Staatsanwalts Gianrico Carofiglio gelesen, dessen Werke oft im juristischen Milieu angesiedelt sind. Mitten im Genuss dieser aktenschwangeren Atmosphäre überkommt mich plötzlich der lähmende Gedanke, dass wenn er mich schwören lässt, ich sagen muss, dass ich nicht an Gott glaube. In diesem Moment finde ich mich sehr alt. Aber er lässt mich nicht schwören und ich finde mich nur noch naiv.

 Doch nicht mehr so naiv, wie noch vor ein paar Wochen. Als ich meinte, die Schule des Kindes korrigieren zu müssen, die uns mit zu wenig Informationen versorgt. Ich meinte, einen Kreuzzug für bessere Transparenz veranstalten zu müssen. Der Schuss ging nach hinten los: "Wer soll sie informieren, Signora, wenn nicht ihr Sohn?" Nun haben wir eine Art Aufforderung zu einem Ausflug bekommen, für den die Schüler X Euro zahlen müssen, für ein Mittagessen Y Euro. Die Summe für den Transport ist unbekannt, wird aber natürlich ebenfalls in Rechnung gestellt werden. Für mein teutonisches mathematisches Empfinden fehlt hier ein wesentlicher Faktor zur Entscheidungsfindung und mein teutonisches Rechtsempfinden telefoniert bereits mit der Schuldirektorin. Da werde ich von meinem neuen, alten kalabresischen Ich gebremst. Können Menschen, die unklare Angaben zu einem Ausflug machen, auf mein Kind aufpassen? Mein sehr individuelles kalabresisches Ich sagt: Das Kind muss nicht mit einem Motorboot mit durchsichtigem Boden durch ein Meernaturschutzgebiet fahren. (Obwohl ich mir das schön vorstelle, allerdings nicht mit der Mathematiklehrerin). Und so nimmt das Kind nicht am Ausflug teil, ganz einfach, ohne Kreuzzug. "Bist du traurig?" frage ich das Kind. "Es geht." Mir tut das Kind leid. Ich wäre gerne unkomplizierter. Aber ich kenne eine andere Mutter, die davon überzeugt ist, ihr Kind wird bei diesem Ausflug ins Meer stürzen, ins Meer gestoßen werden oder auf jeden Fall irgendwie im Meer landen, weil niemand auf ihr Kind aufpassen wird. Und die Frau kommt aus Reggio Calabria und muss nicht zwanghaft wie ich über die Abrechnung nachdenken. Ich stelle meinem Kind in Aussicht, den Ausflugstag mit dem anderen deprivierten Kind zu verbringen. Das Kind steigt nicht richtig darauf ein. Aber das wird schon noch kommen.

 Ich denke, ich habe einen Haufen von diesen unbeholfen "wie ein Pferd" tanzenden Marcos kennengelernt, und ich wünsche mir, dass meine Söhne nicht zu dieser Truppe gehören, aber sie müssen es zwangsläufig. Ihre Mathematikprofessorin sagt: "Ich versteh das gar nicht, die gehen doch in Break Dance, aber am Faschingsfest wollten sie gar nicht tanzen." Der Rallyefahrer sagt: "Ich versteh das gar nicht, wie die das schaffen, zu tanzen, ohne sich zu schämen. Wir sind doch erst im ersten Jahr. Auch die Mathematikprofessorin hat hemmungslos getanzt." Ich versteh das auch alles gar nicht.

 Die Idee, dass ich so alt bin, ist mir heute im Autobus gekommen, als eine Frau neben mir auf die Frage, "Wie geht es dir, Tante?" antwortete: "Es wird immer alles beschwerlicher." Wenn ich an meine gleichaltrigen Freundinnen denke, dann kommen mir die weder alt, noch beschwerlich vor, aber bald könnte es so werden. Jetzt, wo wir schon ohne Lucio Dalla sind. Vielleicht liegt es auch nur am Rallyefahrer, der täglich alles Vertrauliche seiner "Verlobung" berichtet. Seine Verlobte, die ihm Herzen zeigt (auf die Art wie unsereins noch komplizierte Texte in Stummerlsprache geschrieben hat), ist auf der besagten Faschingsfeier weinend aufs Klo gegangen und den Rallyefahrer lehnt alle meine Interpretationsversuche (weil du nicht tanzen wolltest bis zu: es gibt einen anderen und er hat gedroht, ihr den Schädel zu spalten, wenn sie dir noch mal ein Herz zeigt) als deppert ab, aber er weiß auch keine Interpretation. Nachts kann er nun nicht schlafen, weil er an sie denken muss. Das führt zwangsläufig dazu, dass er Fieber bekommt und zu Hause bleiben muss. Hier spielt er inbrünstig Flöte und geht hinaus, um mit seinem Rohrstab gegen imaginäre Heerscharen (Griechen oder Trojaner) zu kämpfen. Heute war er wieder in der Schule. "Und was hat deine Verlobte gesagt?" "Willkommen zurück." "Möchtest du deine Verlobte zum Geburtstag einladen?" fragt MM den Rallyefahrer. "Ich glaube nicht, dass sie gerne aufs Land kommt." antwortet der Rallyefahrer. Während aus meiner Gurgel die Worte dringen: "Dann solltest du sie besser vergessen." sagt MM gewandt: "Sie muss ja nicht gerne aufs Land kommen, aber sie wird sicher gerne zu dir kommen." Deshalb sollte man heiraten und deshalb ist es super für Kinder, wenn sie zwei Elternteile haben. Auch wenn die männlichen Teile immer auf ihre Art Marco sind.

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