Donnerstag, 23. April 2015

Vom Wert der Ordnung und des Chaos - eine Bildbeschreibung

Ich räume auf.

Ich räume mein Büro auf. Ich habe mir im November 2013 geschworen, dass ich im November 2014 einen klaren Verstand haben werde. Das heißt: Wissen was wo ist. Das ist auf eine Art gelungen. Also ich habe gewusst, so ungefähr zumindest, was in welcher Kiste ist.

Irgendwann war ich ein ordentlicher Mensch. Zumindest habe ich regelmäßig Ordnung gemacht. Aber da war ich auch noch jung.

Dann war ich nicht mehr so jung. Und dann waren die Kinder da. Und dann sind wir übersiedelt. Und dann sind die Jahre vergangen. Und dann ist heute und ich stehe mit einer dubiosen Abrechnung aus dem Jahre 2006 da. Aber sie ist so schön angelegt, dass es mir leid tut, sie wegzuschmeißen.

Aus einer Kiste kommen Stadtpläne aus Dublin und das Buch von James Joyce: "Ein Porträt des Künstlers als junger Mann", gekauft irgendwo in einem Antiquariat um 2 Euro (oder Schilling)? Das Buch passt zum Stadtplan, aber vielleicht passt es noch besser in ein Bücherregal. Im Buch sind Rechnungen, aber die kann ich wegschmeißen, sie sind auf Thermopapier und es ist nichts mehr darauf zu sehen. Eine interessante Methode der Auslöschung. Nur eine Rechnung ist auf normalem Papier, sie stammt vom 25.04.2004 und wurde im Muse Cafe in der O'Connel Street gedruckt. 2 Espresso und 1 Cookie für 5 Euro 95 um 16:44.

Ich nehme weitere Dinge aus der Kiste. Ein Heft National Geopgraphic aus dem Jahre 1998, September. Ich blättere es durch und da sehe ich IHN. Da sitzt der Mann meiner Träume auf einem Holzgestell vor einem Barockschloss. Offenbar handelt es sich um "Tsarkoye Selo", denn der Artikel handelt von Katherina der Großen und mein Traummann mag ein Restaurator oder ein Museumsaufseher sein. Er hat blondes, verwuscheltes Haar und blonde Augenbrauen. Er sitzt auf diesem Gestell neben zwei Männern mit schmutzigen Lederstiefeln. Einer von ihnen trägt eine Schirmkappe und streichelt einen beigen kleinen Hund. Mein Mann schaut auf den Hund. Er hat sein rechtes Bein über das linke geschlagen und die Unterarme auf dem Knie aufgestützt. Der rechte Arm liegt über dem linken. In der linken Hand hält er eine Zigarette. Er trägt eine Armbanduhr mit schwarzem Lederband. Er trägt ein hellbaues Hemd, das, wie ich meine, bis zum Bauch geöffnet ist, darunter vielleicht ein Unterhemd. Das Foto erstreckt sich zwar über zwei Seiten, aber der Mann sitzt einfach da im goldenen Schnitt und in Wirklichkeit geht es ja um drei Statuen von Atlas, die zwischen Fenstern mit Rundbögen gebaut wurden. Der Mann hat seinen Kopf gebeugt, ein bisschen so wie der Atlas hinter ihm, der die Welt auf den Schultern hat. Was mag der Mann auf seinen Schultern haben? Eine schwierige Liebe ist das Mindeste.
Er trägt eine beige Hose und schwarze Schnürschuhe. Er ist mager und man sieht die Sehnen auf seinen Händen. Sicherlich arbeitet er mit seinen Händen. Seine Mundwinkel sind nach unten gezogen und seine Ohren sind ein bisschen abstehend. Ich versuche zu erkennen, ob er etwas um seinen Daumen gewickelt hat (den Ring eines Schlüsselbunds vielleicht), aber ich sehe nicht mehr so 100% ig und ich möchte keine Lupe nehmen.

Ich werde nicht nach St. Petersburg fahren (obwohl das vielleicht gar keine schlechte Idee wäre), ich weiß ohnehin wer der Mann ist. Er begegnet mir alle paar Jahre. Manchmal ist er ein Polarforscher, auch auf einem Foto, einmal war er ein rothaariger Mann in  Florenz, der auf einem Markt am selben Tisch mit mir saß. Wir aßen beide Ribollita und stellten rasch fest, dass wir die gleichen politischen Ansichten haben. Der Mann hatte große Hände, sie waren trocken und es waren weiße Farbspuren zu erkennen. Möglicherweise war er Maler und Anstreicher, für mich Maler. Er lebt auch in Wien und ist Künstler in einem Atelier im 2. Bezirk, in dem ich auf dem Klo war, als ich in der Nähe arbeitete. Auf dem Boden in der Nähe des Klos stand eine kleine Espressomaschine, eine kleine Herdplatte, Kaffee, Tassen, Zucker und Löffel. Der Mann machte Bilder in Serien, abstrakte Bilder mit blauer und rosa Farbe, flüchtig wie Wolken an einem Frühlingstag.
Dieser universal vorhandene Mann ist melancholisch, unpraktisch, wenn es darum geht, sein Gefühlsleben in den Griff zu bekommen. Er braucht seine Hände für mehr als nur zum schreiben und vergisst sich selbst, wenn er arbeitet. Er liebt immer die falschen Frauen  und raucht und trinkt zu viel. Er ist leidenschaftlich und das Wohltemperierte ist für ihn zu süß, er hat es gerne stark und bitter.

Klar stelle ich mir vor, wie er mit seinen rauhen Händen über meine heißen Wangen streicht und mich leicht und ein einziges Mal auf den Mund küßt. Zum Abschied. Aber er ist ohnehin immer da. In meinem inneren Schneesturm. Durch den wir so schnell dahinjagen, dass uns heiß wird.

Er ist das, was ich nicht sein kann. Denn ich räume auf, worauf er möglicherweise verzichten würde. Er hätte es nie zu so einem Chaos kommen lassen, denn er, und das weiß ich schon seit Jahrzehnten, kommt mit einem Minimum an Dingen aus und Papierzeug sammelt sich nicht bei ihm an. Verbrennt er es?

Ich mache Ordnung, damit ich die Dinge finde, die mich ans Stürmische erinnern und das ist gut so.


Freitag, 5. Dezember 2014

Männer



Hinter unterem Haus stand einst ein Feigenbaum. Er trug einen Teil zu der romantischen Atmosphäre bei, die uns derart gefiel, dass wir dieses Haus kauften. Neben einem Apfelbaum fiel dieser Feigenbaum der Säge zum Opfer. An seiner Stelle wurde ein Parkplatz für unser Auto geschaffen. Hinter dem ehemaligen Feigenbaum wurden riesige Eisenkörbe mit großen Steinen in die Erde gepfropft, auf dass auch LKWs an unser Haus herankönnen und es wurde eine bereits bestehende Mauer erhöht. Damit eben das Auto gut parken kann. Der Feigenbaum zog ohnehin nur Wespen und andere gefährliche Insekten an, wurde mir erklärt.

Der Nachbar zog auch seinen Nutzen aus unseren grobschlächtigen Veränderungen und baute den winzigen Trampelpfad, der hinter unserem Haus zu seinem Haus führte in eine ungepflasterte Straße aus, über die er nicht nur Zugang zur kleinen öffentlichen Straße hat, sondern auf der auch seine Söhne, Schwiegersöhne und Enkel mit Kindermotorrädern, normalen Motorrädern und Motocross-Maschinen fahren.

Vier Jahre stand nun also unser kleines rotes Auto unter einem großen Eichenbaum am oberen Rand dieser immer unverputzt gebliebenen Mauer geparkt, wenn es zu Hause war. Zwischen Mauer und Haus spielten die Jungs Fußball, manchmal mit den Jungs vom Nachbarn. Der linke Nachbar und seine Frau pendeln zwischen ihrem Haus und dem Anwesen des rechten Nachbarn hin und her, denn sie bestellen dessen Garten. Links und rechts sind in diesem Fall von unserem Haus aus gesehene Richtungen und keine politischen Haltungen. Unter dem großen Eichenbaum wird das rote Auto, zumindest im Herbst, von einer klebrigen Schicht überzogen.

Eines Tages im Frühling kam der Nachbar und sagte zu MM, dass er glaube, diese Mauer müsse verbessert werden, denn sie habe sich ausgebeult und man möge ein Unglück vermeiden, schließlich spielen ja Kinder im Schatten dieser Mauer. Das wunderte mich gar nicht, denn aus dieser Mauer hatte ich schon Wasser kommen sehen, aber wie konnte ich annehmen, dass dies nicht ordnungsgemäß war, schließlich wurde diese Mauer nicht vor hundert Jahren hinter dem vor hundert Jahren erbauten Haus gebaut, sondern vor fünf Jahren, als das hundertjährige Haus renoviert wurde. Und zwar von legal bezahlten Fachkräften. Eine Schlange wohnte auch in der Mauer, aber das sagte ich niemandem, denn ich weiß, dass sich die meisten Leute, darunter auch unsere Nachbarin, vor Schlangen fürchten. Außerdem wohnte die Schlange, wenn ich genau sein möchte, nicht in der Mauer, sondern hinter der Mauer.

Nach einigen Wochen Ungläubigkeit sah auch MM ein, dass die Erde über der Mauer eine Art Wasserbecken gebildet hatte, die das Wasser auffing und durchsickern ließ, statt es abzuleiten. Dadurch hatte sich die Erde ausgebreitet und gegen die Mauer gedrückt. So habe ich es mir zumindest vorgestellt. Und wer war schuld? Der Obermaurer. Der Obermaurer, den ich einst so kompetent und liebenswert gefunden hatte, ist für mich mittlerweile an allem schuld, was nicht funktioniert, schmutzig ist oder nach wenigen Jahren ausgetauscht werden muss. Das verbindet ihn mit meinem Ehemann. Und tatsächlich verteidigte dieser den Obermaurer. Also hatten sie gemeinsam eine inkompetente Entscheidung getroffen und eine rachitische Mauer gebaut, die dazu bestimmt war, nach fünf Jahren abgerissen zu werden, auf dass kein Unglück geschehe.

Ich möchte keinesfalls viele Worte zum Mauerabriss und zum Maueraufbau verschwenden. Nur so viel: Es hat lange gedauert. Es war teuer. Es sieht hässlich aus.

Jetzt sind alle zufrieden. MM, der Nachbar, der (für uns neue) Maurer. Sogar meine großen Söhne wurden eingebunden und konnten sich mit stundenweiser Hilfe Geld verdienen.

Ich habe die Vision, dass alle Häuser und Bauten auf unserem Hügel durch ein Erdbeben oder eine andere apokalyptische Naturkatastrophe zusammenbrechen und ins Meer gespült werden, während diese neue Mauer stehen bleiben wird. Man wird sie auf Satellitenbildern ausnehmen können und ich überlege mir, ob ich eine Nachricht für die Generationen oder Lebensformen, die nach uns kommen werden, in dieser Mauer hinterlassen soll.

Und das rote Auto parkt jetzt nicht mehr auf durstiger Erde, sondern auf ästhetisch wertvoll regelmäßig klein gehacktem Schutt, was ein bisschen wie Kieselsteine wirkt. Ich spreche nicht über die Mauer, ich mache das, was man mir sagt. Ich parke hier, ich parke dort, ich parke ein bisschen weiter links, ein bisschen weiter rechts, ein bisschen weiter hinten, ein bisschen weiter vorne, je nach dem Stadium des Mauerbaus. Ich schaue aus dem Schlafzimmerfenster und sehe die graue Mauer. Dafür hätte ich nicht aufs Land ziehen müssen. Ich überlege, welche bis jetzt unbekannten Geldquellen ich anzapfen kann, damit diese Mauer auch verputzt wird, denn ich weiß, dass das Kind dann gerne etwas daraufmalen wollen wird. Ein Regenbogen ist sicher das Minimum.

Das große Glück über diese und mit dieser Mauer versetzt MM in derartige Ekstase, dass er auch das große blaue Auto unter der Eiche parkt. Beim Abendessen doziert er über die zeitlichen Vorteile, die dieses Parken mit sich bringt, denn man stürzt sich die kleine Straße hinab und ist hinter dem Haus und muss nicht die lange gewundene Straße hinter sich bringen, um vor dem Haus anzukommen. Dass man die beiden Autos dann umparken muss, damit das richtige Auto am nächsten Morgen in Poleposition steht, und dass das große blaue Auto schwer zu wenden ist, wird nicht eingerechnet. Da auch ich meine Steckenpferde habe, die immer gewinnen, auch wenn nach rationaler Betrachtung der Lage ihr Vorteil nicht so groß ist, sage ich nichts.

Eines Morgens, als alle vier männlichen Mitbewohner hinter das Haus stapfen, um mit dem blauen Auto zur Schule und Arbeit zu fahren, fahren sie nicht. Als ich das Schlafzimmerfenster öffne und seufzend auf die graue Mauer starren will, sehe ich die drei älteren männlichen Wesen ums Auto herumschleichen und das Kind betreten im Auto sitzen. Ich sehe es sofort: das Auto wurde in den Sand gesetzt. Der Eintonner befindet sich zu nahe an der Mauer und das Hinterrad ist im Schutt versunken. Instinktiv ziehe ich mich zurück und denke an Traktoren, die das Auto herausziehen und an Entschuldigungen in Mitteilungsheften. Ich kann MM nicht einmal zum Autobus bringen, denn das kleine rote Auto steht vor dem blauen und wenn sich dieses nicht bewegt, bleibt auch das rote Auto stehen.

Der Fußballspieler, der sich vor einer Minute noch in Zeitlupe, beschwert von Hormonen, aus dem Haus geschleppt hat, kommt elastisch gelaufen und verlangt eine Schaufel. Ich verlasse das Haus aus Sicherheitsgründen nicht, denn ich würde meinen Mann sehr beleidigen, wenn nicht sogar tätlich angreifen. Der Fußballspieler teilt mir außer Atem mit, dass das Kind Steine weggetreten hätte, worauf das Auto nun feststecke. Das Kind! Soviele Steine konnte das Kind doch gar nicht in drei Minuten wegtreten. Ich nähere mich nicht wieder dem Schlafzimmerfenster, sondern finde mir, ganz gegen meinen normalen Rhythmus eine Beschäftigung in der Küche. Nach zwanzig Minuten gehe ich ins Schlafzimmer, sicher, dass alle längst weg sind. Da schaufeln die noch immer, die Reifen drehen durch, der Motor heult auf, Rufe des großen Sohns: Mehr links, mehr rechts, geradeaus, basta, stopp. Das Kind steht abseits und beginnt nun zu klatschen und zu springen. Offenbar haben sie es geschafft. Ich höre noch mehrmals das Wort „Zement“.

Als sie weg sind, frage ich mich, ob, wenn ich mein Auto dort eingegraben hätte, meine Kinder dann so hilfsbereit gewesen wären und in ihren langwierig ausgesuchten Klamotten Steine umgeschichtet hätten und dabei unternehmungslustiger als normal geworden wären.

Nach ein paar Stunden ruft MM an und sagt, er hätte am Morgen ein kleines Problem mit dem Auto gehabt. In Wirklichkeit sind alle zu spät in die Schule gekommen und MM musste mit dem Auto zur Arbeit fahren, weil der Bus schon lange weg war.
Auch die Jungs sagen, es wäre am Morgen nicht ganz einfach gewesen, wegzufahren. Und man merkt, dass sie glücklich sind, weil sie vor der Schule schon ein bisschen Abenteuer und Schweiß hatten. Das Kind sagt nichts, was darauf hindeutet, dass es vielleicht wirklich schuld an dem Desaster war. Oder weil es noch nicht so eine breite Brust hat, auf die es sich dann klopfen will.

Ich sage auch nichts. Daher schreibe ich es hier: „ICH hätte das Auto dort NIE geparkt.“





Mittwoch, 19. November 2014

Hühnerbegräbnis


In der Genealogie der Hunde, die wir bis jetzt als unsere bezeichnet haben, ist Tommy derzeit der einzige Hund, der uns Gesellschaft leistet.
Tommy ist Bertas Sohn. Berta war ein Schäferhund mit abgeschnittenem Schwanz, der böse die Zähne fletschen konnte und eines mehr als ein Jahr zurückliegenden Tages sehr mager und offensichtlich verstoßen oder geflohen auf unserer Terrasse vorstellig wurde und sich nach kurzer Bedenkzeit bei uns niederließ. Mittlerweile hat sie uns verlassen um in die wahrhaft ewigen Jagdgründe einzugehen. Berta hatte eine Vorliebe für Igel, die sie in ihre Hundehütte brachte, ohne dass wir je gesehen haben, wie sie das machte. Ich trug diese Igel, zumindest glaube ich, dass es nicht immer ein und derselbe war, auf einer Mistschaufel zu den Hennen, legte sie dort ins Gestrüpp, kauerte mich eine Zeitlang zu ihnen, um zu beobachten, was sie taten. Sie atmeten. Am nächsten Tag waren sie dann immer weg.

Tommy ist ein schwarzer Hund mit weißer Brust und hat eine Freundin namens Zora, ebenfalls schwarz und aus einer Rasse stammend. Zugegebenermaßen finde ich, dass Zora dümmer als Tommy dreinschaut. Beide schauen sie naiv. Beide werden sie von den Nachbarn beschuldigt, sämtliches frisch gepflanzte Gemüse ausgegraben zu haben und sich an Kaninchen zu vergehen. Ich habe das nie gesehen und war bis vor kurzem bereit, meine Hand für Tommys Unschuld ins Feuer zu legen.
Bis das Huhn auf der Terrasse lag. Das Huhn war schwarz und möglicherweise eine Henne. Zuerst habe ich nur etwas schwarzes gesehen und hatte ein unangenehmes Gefühl. Während ich noch mit dem Kind über die Fläche einer Raute sprach, die einem Viertel eines äquivalenten Quadrats entspricht, ging ich auf die Terrasse und stellte fest, dass das Schwarze eben ein Vogel ohne Kopf war. Das Kind und ich haben uns erschrocken angesehen. Dann gingen wir zum Hühnerhof, in Hausschuhen und zählten unsere Hühner, was nicht schwer ist, wir haben nur zwei schwarze Hennen und beide kamen fröhlich auf uns zugestolpert.

Das Massaker betraf also irgendwelche Nachbarn, was fast noch unangenehmer war. Vor ein paar Jahren, als unser Hund Benny allerlei Unfug anstellte, was ihm schlußendlich möglicherweise das Leben gekostet hat, habe ich auch ein Huhn gefunden. Ich habe es damals in einen Plastiksack gesteckt und bin eine riesige Runde gegangen und alle Nachbarn behaupteten, dass ihnen dieses Huhn nicht gehöre. Mittlerweile glaube ich fast, sie haben es aus irgendwelchen Gründen des Ehrenkodex nicht zugegeben. Jedenfalls wusste ich schon, dass ich den Besitzer der schwarzen kleinen Henne gar nicht erst zu suchen brauchte. Ich wollte die Henne gerne mit einer Schaufel einfach in den Weingarten schmeißen. Ich mache das oft mit unliebsamen Dingen wie Hunde- oder Katzenscheiße. Aber schon die Igel musste ich weiter wegbringen, ins eingezäunten Hennengehege, weil Berta sie sonst wiedergebracht hätte. Also widerstand ich der Versuchung der einfachen Lösung, aus Angst, Timmy könne den Vogel wieder und wieder bringen und jedes Mal wäre ein Stück weniger dran. Was hätte mein abwesender Mann gemacht? Ich ließ die Schaufel stehen und griff zum Telefon. MM gab mir Anweisungen, das Tier unter dem Birnbaum zu vergraben. In meiner Aufregung wusste ich gar nicht, von welchem Birnbaum er sprach, aber ich konnte mir eine Idee machen und ging auf jeden Fall unter einen Obstbaum und begann, zu graben. Es hat monatelang nicht geregnet und ich hatte das Gefühl, Zement aufzugraben. Ich dachte, ich werde es nie schaffen, ein entsprechend großes Loch zu graben, da half mir auch die Kenntnis der Formeln für Flächen nicht. Und auch wenn ich die Kubikzentimeter berechnen hätte können, wäre mir nicht leichter gewesen. Zentimeter für Zentimeter, Gramm für Gramm hob ich die trockene Erde ab. Ich musste an meine Kindheit denken, als ich im Weingarten meines Vaters Löcher grub, um Dinge zu verstecken, die ich später, in meiner Eigenschaft als Detektivin wieder finden würde. Ich musste an Patricia Highsmiths Kriminalromane denken und wie unfähig ich war, eine Leiche verschwinden zu lassen, auch wenn es sich nur um einen Tierkadaver handelte. Ich musste denken, dass in einer zivilisierten Gesellschaft andere Methoden existieren, sich eines Tierkörpers zu entledigen, aber da ich in einem Teil Europas wohne, in dem derzeit der Müll seit drei Wochen nicht abgeholt wird, fühle ich mich durchaus berechtigt, die Henne unter die Erde zu bringen.

Mittlerweile schwitze ich schon ziemlich, aber das Loch ist doch ein bisschen größer geworden. Noch ein bisschen Anstrengung und Stöhnen und dann nehme ich die Henne wieder auf die Schaufel und lasse sie in die Aushebung plumpsen. Ich lege mit der Schaufel die Klauen zusammen. Zum Glück hat das Tier keinen Kopf mehr und wirkt dadurch abstrakter. Es verschwindet nicht ganz im Loch und als ich es mit Erde bedecke, bleibt ein kleiner Hügel. Ich lege trockenes Gras darauf.

100 m weiter unten ist einer der Nachbarn mit seinen Schafen unterwegs, ich höre ihn mit ihnen sprechen. Ich denke, dass das beste Verbrechen unter den Augen aller vollzogen wird. Eben Patricia Highsmith.

Am nächsten Tag gehe ich durch den Obstgarten und stelle fest, dass mein Hühnergrab unberührt und nur noch an der Grasbedeckung für mich zu erkennen ist. Ich bin fast stolz auf mich. Ich will ja immer die sein, die im Holzfällerhemd das Holz fällt und vor allem mit der Grasschneidemaschine Gras schneidet. Aber ich habe kein Holzfällerhemd und MM hat mir verboten, die Kettensäge zu benutzen.

Am übernächsten Tag liegt wieder etwas auf der Terrasse. Was ist das? Es sieht aus wie ein Stofftier. Ein sehr teures Stofftier. Oh nein, zum Glück ist keiner der Jungs zu Hause. Tommy ist an der Leine. Diesmal ist er wirklich unschuldig. Dieses Kaninchen hat Zora gebracht, die am Morgen hier mit Tommy gespielt hat, bevor ich ihn angeleint habe. Es ist ein graues Kaninchen, wieder ohne Kopf. Es sieht sehr weich aus und hat entzückende Läufe. Diesmal muss ich niemanden mehr um Rat fragen. Einen Moment bin ich versucht, zur Nachbarin zu gehen und ihr zu sagen, dass es Zora war, denn Tommy kann sich nicht alleine ab- und wieder anleinen. Aber ich nehme davon Abstand. Eigentlich weil ich Angst habe, was sie mir dann für Schauergeschichten über umgewühlte Salatbeete und in der Gegend herumkollernde Kürbisse erzählen könnte.

Ich hebe das Kaninchen auf die Schaufel und gehe zum Birnbaum hinunter. Heute bin ich schon ein bisschen flotter, dafür muss die Grube tiefer sein. Das Kaninchen ist erstaunlich beweglich und faltet sich in seinem Loch zusammen. Die Erde ist immer noch trocken und ich lege zum Abschluss einige Steine auf das Grab, um anderen Hunden eine Exhumierung schwerer zu machen.

Und so macht jeder, was er machen muss.

Mittwoch, 30. Juli 2014

Was trunken macht

- jede Art von Alkohol
- ein etwas zu lang gelächeltes Lächeln von jemandem, den man bis jetzt nicht in Betracht gezogen hat
- eine heftige Diskussion mit gutem Ausgang
- die Aussicht, jemanden kennenzulernen, den man bis jetzt nur über e-mails kennt
- das Ende eines langen Tages
- ein schneller Spaziergang
- abends im Meer zu schwimmen
zum Beispiel

Samstag, 12. Juli 2014

Die schmerzvolle Schönheit des Vergänglichen

Man möchte es so sagen:
Ti amo tanto. Ich liebe dich so sehr. Man möchte es sagen und dahin stellen. Dorthin stellen, irgendwo hin stellen. Wo es dann steht. Und aus. Und keine Konsequenzen. 

Ti amo tanto. Ma tanto tanto tanto. Also wirklich ganz ganz viel und ganz ungeheuerlich. Und nicht mehr und nicht weniger. Und das heißt es. Und ping, wie mit dem Zauberstab, Sternchen, ist man wieder weg. 

Und was bleibt? Bleibt etwas? Aber ja. Ein größeres Herz. Fast überdimensional, man muss schauen, ob es nicht aus der Kleidung quillt. 


Samstag, 15. März 2014

Mein Weisheitszahn

Natürlich bäumt sich der Weisheitszahn nicht mehr auf, seit im Gespräch ist, ihn aus meinem Kiefer herauszuoperieren. Dort schlummert er seit ewigen Zeiten wie ein Vulkan. Über ihm hat man mir einen Zahn gerissen, als ich 17 war. Vielleicht hätte man damals schon an den Dicken denken sollen, der möglicherweise darunter rumorte. Vor zwei Jahren nun den nächsten Zahn dahinter und jetzt reicht's, jetzt muss dort eine Eisenstange rein und ein Keramikzahn und vorher muss der Dente del giudizio raus, das haben jetzt die Experten nach Betrachtung und Auswertung aller futuristischen Panoramabilder meines Gebisses einstimmig beschlossen. "Sind sie nun vorbereitet, ich meine psychologisch?" fragt mich die Assistentin in der Klinik, in der auch das Gebiss des Kindes mit Metallfäden in die richtige Form gebracht wird. "Nein." sage ich und sie lacht (etwas gequält). Sie kennt mich nun schon lange und sie würde wahrscheinlich sagen: Die Signora ist sehr gewissenhaft, um nicht zu sagen: die Signora ist hysterisch. Nein, ich bin nicht vorbereitet, zumindest nicht psychologisch, aber heute habe ich viele Untersuchungen gemacht und dabei wirklich interessante Menschen kennengelernt.
In dieser Klinik lächeln alle immer. Anfänglich denkt man, die Menschen finden einen sympathisch, eventuell vielleicht sogar witzig, aber dann merkt man, dass sie diesen heiteren Ausdruck nie verlieren. Meglio così, besser so, wie viele Kalabresen auf Vieles sagen. Unverhofft wird mir ein Elektrokardiogramm gemacht und ich darf mich auf eine Liege legen, worauf ich fast einschlafe, dennoch scheinen meine Herzwerte nicht erschreckend ruhig. Dann wird mir der Blutdruck gemessen und ich weiß, dass mir später noch Blut abgenommen werden soll.
Ein Mann ruft mich mit meinem Vornamen, weil er meinen Nachnamen nicht aussprechen kann. Der Mann ist riesig und seine Haarpracht ist so weiß wie seine Arbeitskleidung. Er lächelt milde. Mit einem Auge schaut er mich an, mit dem anderen auf die Wand links neben mir. Ich hoffe, er will mir nicht Blut abnehmen. Nein, er will mit mir sprechen. Er hat einen großen Ordner mit Papier vor sich und beginnt bedächtig meinen, für ihn seltsamen Nachnamen zu schreiben. Dabei lächelt er dieses beruhigende Lächeln, als hätte er mich lieb. Er wirkt wie ein zufriedenes riesiges blondes Baby. Ein paar Minuten, nachdem er mein Geburtsdatum aufschreibt, vertraut er mir an, dass er ein Jahr älter ist als ich, aber er fühle sich nicht alt. Er gehe tanzen. "Sehr gut!" sage ich. Nein, ich frage nicht, wann und wo, ich will auch nicht aufspringen und einen wilden Discodance beginnen. Ich habe noch nicht gefrühstückt und bin seit zwei Stunden unterwegs. Er freut sich, aber er wirkt ein wenig beunruhigt, vielleicht bin ich doch nicht enthusiastisch genug. Er wiederholt, dass er sich jung fühlt und dass er auch mit einer 30-jährigen Freundin gut auskommen würde. Unwillkürlich schaue ich auf seine Hände. Abgebissene Fingernägel, kein Ring. "In letzter Zeit habe ich mich ein wenig gehen lassen", sagt er und streicht sich über das Haar, als ginge es darum, dass er schon länger nicht beim Frisör war. Er macht eine Geste, als wäre er ein Frosch, der sich aufbläht. Er will wohl sagen, dass er zugenommen hat, ich sage: "Eh va be." und das kann man nun interpretieren wie man will: das ist doch nicht schlimm, es gibt viel dickere Leute als sie, oder: mich stört das nicht, oder: nehmen wir nicht alle irgendwann zu usw. Eigentlich würde ich gerne sagen: sie können ja laufen gehen, aber ich weiß, das ist mein eigener Wahn im Moment und ich kann nicht wie ein Zeuge Jehovas des Laufens die Leute bekehren. Zumal meine neu gestartete Laufkarriere nicht einmal zwei Wochen alt ist, aber offenbar so viele Endorphine frei gesetzt hat, dass ich glaube, ICH bin die 30-jährige potenzielle Freundin. Er sagt mir auch, wo er wohnt. Ich sage: "Da haben sie aber einen langen Weg zur Arbeit." Daraufhin erklärt er mir, dass er diesen Job allein bekommen hat, ohne Protektion, er habe nämlich etwas studiert (möglicherweise Arzt?) und dann die Krankenpflegerausbildung gemacht und dann hier vorgesprochen und sei angestellt worden. In einer anderen Gesellschaft wäre das irgendwie klar, aber möglicherweise ist seine Situation wirklich einzigartig. "Sono un uomo libero." Ich bin ein freier Mann, sagt er. Was mich aufrichtig ergreift. "Das ist ein Wert" sage ich.
Nun beginnt er aber über Ärzte zu schimpfen, die nämlich alle nur durch Protektion zu dem gekommen seien, was sie machen und mein Herz sinkt. Alle guten Ärzte aus Kalabrien seien in den Norden gegangen, alles was hier ist, na reden wir lieber nicht darüber. Oh mein Gott. Und von so einem, über den man lieber nichts redet, soll ich mir meinen Weisheitszahn aus dem Kiefer stemmen lassen? Das Riesenbaby ereifert sich: "Die Leute glauben, wenn einer einen Hochschulabschluss hat, ist er Arzt, aber ein Hochschulabschluss sagt noch gar nichts." Einiges von dem, was er sagt, verstehe ich kaum, ich glaube, es ist der Eifer, der ihn zum Übersprudeln bringt. Ich bin froh, als er sagt: "Ich muss sie das fragen: Gehen sie regelmäßig aufs Klo, oder leiden sie unter Verstopfung?" "Regelmäßig", sage ich trocken und bin sehr stolz auf mich. "Auch was die Diurese betrifft?" Gut, dass wir nun über die essenziellen Dinge des Lebens reden und dann sagt er zu mir: "Sie können gehen."
Die Krankenschwester, die mir Blut abnehmen soll, ist auch sehr freundlich und lächelt. "Jetzt sagen sie mir einmal: woher kommen sie?" Ich gebe ihr eine Antwort und sie sagt: "Aber zwischen hier und dort liegen doch Untiefen." Mir ist das immer peinlich, wenn jemand meine Heimat lobt. Und sagt, dass alle dorthin wollen. Das gibt mir das Gefühl, erstens bescheuert zu sein und zweitens ein Versager, eine Art ins Exil geschobener Mensch. "Sie sind wegen der Liebe hier, stimmt's?" Das klingt auch wieder komisch. "Sagen wir ja." sage ich, was mich gleich noch verdächtiger macht. Freundlich lächelnd schreibt sie sorgfältig meinen Namen auf drei Phiolen und dann jagt sie eine Nadel in meine Vene und fragt mich, ob es weh tut, was anfänglich nicht der Fall ist. Ich schaue aus dem Fenster auf diesen wunderbaren Teil der Küste des Tyrrhenischen Meers, auf die Insel, die heute pastellfarben erscheint, wie alles. Ich sage: "Viele Leute in meiner Heimat würden sie um die Lage ihres Arbeitsplatzes beneiden." Sie sagt: "Es ist das Panorama, das wir hier in Kalabrien haben. Sonst kann Kalabrien nicht viel bieten. Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich Arbeit habe, aber es gibt so viele Menschen, die ihre Arbeit verloren haben." Das und die Nadel in meinem Arm geben mir den Rest, ich finde die Frau nicht mehr nett. Bevor ich meinen vermeintlich letzten Atemzug tue, befreit sie mich und sagt, ich kann jetzt frühstücken. Ich glaube, ich will gar nicht mehr frühstücken.
Auf dem Gang steht ein Kaffeeautomat und einer mit Snacks, aber die Schnitten und KitKat die sich in diesem Kasten befinden, kann ich aufgrund mangelnder Phantasie, Begabung oder Geschicklichkeit nicht aus dem Automaten holen und ich gebe mich mit einem sogenannten Capuciokk zufrieden, sehr zufrieden. Auf dem Gang wartet eine junge Frau, die eine Jacke mit Leopardenmuster trägt, eine Tasche mit Leopardenmuster und wie ich sehe, nachdem ich sie ausgiebig betrachtet habe, auch ein T-Shirt mit Leopardenmuster. Mit seinem milden Lächeln ruft sie mein Freund, das Riesenbaby in sein Zimmerchen mit Blick aufs Meer. Sicherlich wird er sich an dieser jungen Raubtierfrau erfreuen.
Anschließend unterhalte ich mich mit einer Zahnärztin, die sagt: "Na sie haben aber einen Weisheitszahn!", was mich denken lässt, dass mein Kiefer vielleicht zusammenbricht, wenn mir dieser offenbar überdimensionierte Zahn entfernt wird. Wir machen einen Termin aus und sie sagt, ich soll einen Trainingsanzug oder einen Pyjama mitbringen. Ich unterschreibe einen Zettel, dass ich über den Eingriff aufgeklärt wurde.
Dann wird mir noch ein Panoramaröntgen vom Kiefer gemacht. Hoffentlich passt mein riesiger Weisheitszahn auf dieses kleine Bild. Zwei andere Personen müssen auch ein Röntgenbild machen, einer ist ein Mann mit einem Piercing über der Augenbraue und in der Nase, die er allerdings nicht entfernen muss. Ich meine Ohrringe schon, das verstehe ich nicht. Es ist mir aber auch egal.
Danach habe ich ein kurzes Treffen mit einem praktischen Arzt. Da ich ja nun erfahren habe, dass alle Ärzte nur durch Protektion zu ihrem Arbeitsplatz gekommen sind bin ich sehr skeptisch und als er eine auffordernde Geste macht, rufe ich entsetzt: "Was wollen sie?" Er will meinen Puls fühlen.
Abschließend kontrolliert eine andere Krankenschwester freundlich all diese Papiere, all diese Unterschriften die ich geleistet habe. Ich hoffe, ich habe mich nirgends verpflichtet, in Zukunft auf meinen Weisheitszahn zu verzichten und der sofortigen Entnahme desselben zugestimmt, denn ich glaube, dass meine psychologische Vorbereitung für diesen "Interventino", wie die Dentistin verharmlosend sagt, für dieses Eingrifflein also, sehr zu wünschen übrig lässt.

Freitag, 7. März 2014

CSI Calabria, Folge 2: Hühner

Seit ein paar Tagen legen die Hennen keine Eier, eines oder maximal zwei. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich bereit, jedes erdenkliche Loblied auf die Hennen zu singen. Ja wirklich, oft hatte ich das uralte Lied: "Ich wollt ich wär ein Huhn" im Kopf, wenn ich ihnen ihren geschroteten Mais zum Fressen brachte. Oder die Salatabfälle. Oder die Kürbisschalen. "Meine Braven, ihr seid ja so brav!" rief ich ihnen zu, wenn ich die Eier aus dem zum Legen vorgesehen Teil des Hühnerhauses holte. MM und ich rühmten uns unserer psychologisch einwandfreien Hühnerbetreuung, die uns jeden Tag 5-6 Eier bescherte. "Unsere Hennen sind wirklich clever." sagte ich zu ihm und er meinte: "Ich glaube, das alle Tiere, wie ihre Besitzer sind." Stolz auf unsere Hühner, die nicht so blöd sind, wie die meiner Nachbarin und nur phasenweise Eier legen. Unsere Hennen haben Auslauf, sie werden geliebt, sie werden gepflegt. Sie werden sogar gestreichelt. Und nun das. Keine Eier mehr. Sollten unsere Hennen einfach so sein, wie alle anderen? "Al risposo"? In einer Phase des Ausruhens.

Meine Schwiegermutter hat eine Henne, die weiß ist. Sie hat auch einen Hahn. Über den grausamen Hahn hören wir immer schreckliche Geschichten und über die dumme weiße Henne auch. Die Henne fliegt immer weg und legt keine Eier. Mein Schwager hat ihr bereits die Flügel gestutzt, aber auch das hilft nichts. Sie scheint, wenn ich den Erzählung richtig folge, über eine Einzäunung zu fliegen, weil sie ihre Eier dann an unverdächtigen Orten ablegt. Also legt sie doch Eier. Ich glaube ja ein bisschen, dass all dieses Gejammer um die nicht eierlegenden Hennen dafür sorgen soll, dass ich großzügig und mitfühlend meine Eiervorräte teile. Was wirklich nicht besonders aufopfernd ist, denn wir haben viele Eier. Aber nun schrumpft unser Vorrat auf etwa 40 Eier und ich bekomme Angst, ich muss Eier kaufen, bei den Nachbarinnen einen Vorschuss verlangen, oder in jedem Fall sparen. Dabei esse ich eigentlich kaum Eier, um meine Gesundheit nicht zu sehr auf die Probe zu stellen, drei heranwachsende Knaben können allerdings große Mengen an Frittata verzehren. Und MM hat sich den Luxus gegönnt, eine Sachertorte nach einem der zahlreichen Originalrezepte zu backen und hat dafür 12 Eier verwendet. Die Torte war sehr gut, konnte aber nur in homöopathischen Dosen genossen werden. Meine Schwiegermutter spricht immer davon, dass sie das Huhn umbringen wird, tut es aber doch nie.

Und jetzt? Brauchen wir auch einen Hahn? Was ist passiert, warum werden von einem Tag auf den anderen keine Eier gelegt? Es gab keinen Wetterwechsel, das Wetter ist auch eher als mild zu bezeichnen. Da haben die Hühner schon mehr gefroren und dennoch Eier gelegt. Das Futter wurde nicht gewechselt, im Gegenteil, das Kind hat den Hühnern stundenlang Klee zugesteckt und sich daran ergötzt, wie schnell sie diesen verschlingen. Hat sie das verstört, die Hühner? Wollen sie keinen Klee? Wollen sie mehr Klee? Hat das Kind anschließend heimlich die Hühner gequält? Eine blonde Henne betreibt mobbing gegen eine schwarze Henne, eindeutig, das würde erklären, warum die schwarze Henne keine Eier legt? Aber die blonde? MM fragt mich, ob ich den Hennen Wasser gebe. Ich glaube, er verdächtigt mich, Tierquälerei zu betreiben, so wie das Kind verdächtige. MM geht an den Strand um weiße, längliche Steine zu suchen, die schönsten Exemplare legt er ihnen auf den Nistplatz. Nichts. Ein Steinei, wird verächtlich weggeschoben, das andere angeschissen. Wer oder was könnte den harmonischen Alltag unserer Hennen so stören? Sie sind psychologisch verstört, das ist klar, denn unsere wunderbaren Tiere sind nicht wie die anderen, sie sind sensibel, aber nicht in einer Ruhepause. "Wozu braucht ihr eine Ruhepause?" frage ich sie, während sie vergnügt im Hühnerhof herumstolpern. Ich bin enttäuscht, ich gebe es zu. Sie sind wie alle anderen. Ich kann meine Schwiegermutter verstehen. Diese Hennen taugen nichts.

Betrübt fügen wir uns in unser Schicksal. Auch wir haben Hennen, die keine Eier legen. Am Morgen, als das Wetter schön ist, grüße ich meine Nachbarin und wie immer beglückwünschen wir uns wegen dem schönen Wetter. Eigentlich will ich ihr zurufen: Es muss jetzt immer schön bleiben, denn meine armen Hühner haben aufgehört, Eier zu legen, aber ich halte mich zurück. Sie geht gerade selbst ihr Hühnerhaus öffnen, und ich möchte nicht, dass sie mir sagt, ihre Hühner würden aber sehr viele Eier legen und sich womöglich verpflichtet fühlte, mir Eier zu geben.

Am Nachmittag putze ich das Hühnerhaus. Wie immer mache ich einen Rundgang in Gummstiefeln durch den Hühnerauslauf. "Hast du überall geschaut?" fragen MM und ich uns jeden Tag. "Jaja, nichts." Auf dem Grau der Erde liegen ein paar braune dornige Äste, die MM um den Hühnerauslauf abgeschnitten hat, sie sind trocken, grün ist es nur außerhalb der Umzäunung für die Hühner. Da sehe ich plötzlich unter diesen Ästen Eier liegen, perfekt harmonierend mit den graubraunen Farbtönen ihrer Umgebung. Etwas mit Schlamm besudelt, denn schließlich liegen diese Eier hier nicht seit einer Stunde. Es sind unglaublich viele Eier, die da ordentlich zusammenliegen. Eines liegt auf dem Weg.  Ich hebe es rasch auf, bevor ich es zertrete und schaue mich um, es ist als hätte es diese Eier vom Himmel geregnet, was schwer möglich ist. Ich habe Arbeitshandschuhe an und kann meine Hände in den schmalen Hohlraum zwischen den dornigen Ästen und der Erde schieben und hole 28 Eier darunter hervor, die ich in die Schüssel lege, in der der Gemüseabfall war, den ich den Hennen gebracht habe. Meine Laune hebt sich in Lichtgeschwindigkeit. "Ihr seid brave Hennen!" rufe ich ihnen zu und sie kämpfen vergnügt mit den Zichorienblättern, die ich ihnen auf den Boden geworfen habe. Was sie dazu bewogen hat, ihr Nest auszusiedeln, wissen wir nicht, aber ich nehme an, dass sie eigenwillig sind, wie alle Lebewesen und manchmal Abwechslung suchen. Wer weiß, was sie als nächstes vorhaben.