Dienstag, 7. Juni 2011

Referendum

Am 11. Juni hätte der Meilenstein der Geschichte des Theaters südlich der Alpen stattfinden sollen: Die Schulaufführung von "I promessi sposi", in der meine großen Kinder Don Rodrigo und L'Innominato geben. Aber: "Es findet ja das Referendum statt" blafft mich die Direktorin vor ein paar Wochen auf das Datum befragt an. Ich schrecke zurück. Referendum? Habe ich das einberufen? Müssen meine Kinder zu einem Referendum? Nein, die Schule ist Wahllokal ("Sie haben uns den 10., 11. und blabla genommen!" beschwert sich die Direktorin. So eifrige Lehrer gibt es selten.) Am 11. Juni ist offiziell Schulschluss. Meine Kinder werden die Aufführung am 19. haben und an jedem Tag, an dem die Schule weder vorbereitet wird, noch als Wahllokal dient, noch wieder geputzt wird, proben, proben, proben. Außerdem werden sie, da sie in diesem Jahr Null Turnstunden hatten, Jugendspiele abhalten (da dürfen sie dann endlich laufen!). Aber es werden, anlässlich der feierlichen Begehung von 150 Jahren Einheit Italiens, Spiele sein, wie anno dazumal. Sackhüpfen. Für uns heißt das: Jutesäcke besorgen (neben den Theaterkostümen). Erstaunlicherweise gibt es keine Jutesäcke mehr. Aber die weißen, geflochtenen Plastiksäcke, in denen heutzutage Tierfutter transportiert wird, will der Herr Lehrer nicht.
In diesen Tagen muss ich oft an einen Satz von Hans Magnus Enzensberger denken: "Das Gegenteil von gut ist gut gemeint". Ich kann diesen Satz aber nicht ins Italienische übersetzen und daher versteht MM meine Genialität (nämlich die, Enzensberger zu zitieren) nicht.
MM freut sich auf den 12. Juni. Er wird früh aufstehen, frühstücken und anschließend zum Referendum gehen. Er wird einen Trendsetter abgeben. Befragt werden die Menschen, ob die Verwaltung des Wassers in öffentlicher Hand bleiben soll (soll es nämlich nicht, und man muss ein bereits bestehendes Gesetz außer Kraft setzen), ob Italien atomfrei bleiben soll (soll es nämlich nicht) und ob man Politikern Gerichtsprozesse machen darf (was nämlich aus Gründen der Immunität nicht gehen soll). Das Referendum ist also nicht nur eine Möglichkeit der Bürger, Stellung zu beziehen, sondern durchaus dringlich für die, die nicht wünschen, dass Herrn Berlusconis Freunde unser Trinkwasser verwalten und verkaufen, dass Herrn Berlusconis Freunde Atomkraftwerke bauen und Herr Berlusconi selbst sich vor Gericht nicht verteidigen muss. Unumgänglich für eine Bewertung des Referendums ist die Teilnahme von 50% aller Wahlberechtigten plus eine Person, das sogenannte Quorum, das erreicht werden muss. Es wäre zu schön. Sarebbe troppo bello!

Mittwoch, 1. Juni 2011

Keine Rosen, nur Dornen

"Sie wird diesem Mann verzeihen, so wie sie Lorenzo verzeihen wird. Du kennst sie doch. Sie macht das nicht, weil sie so ein guter Mensch ist, sondern weil sie die Freiheit liebt. Der Groll ist wie eine Eisenkugel am Fuß, und sie ist eine, die rennen will." So oder so ähnlich schreibt Olivia Corio in dem Roman, den ich gerade fertig gelesen habe, er heißt "Colpiscimi", was ich jetzt gerade nicht übersetzen kann, da ich nämlich vom Groll übermannt bin. Könnte ich ihn ablegen, wäre ich weniger müde, davon bin ich überzeugt. Vielleicht bin ich nicht so freiheitsliebend wie Mariasole, die Heldin des Buchs, die 90% der Seiten im Koma verbringt. Meinen Groll hat Maria Assunta verursacht, die Tanzlehrerin des Kindes, von der ich noch bis gestern behauptet hätte, sie sei der ernsthafteste Mensch südlich von Bozen bis nach Tamanrasset. Jetzt möchte ich sagen, dass sie genauso ist, wie alle anderen und ich merke, dass mir die letzten Wochen geballten Italientums zugesetzt haben. Ich kann nicht mehr. Ich brauche eine Auszeit, ich brauche einen Kulturwechsel.
Ich muss hier die Schule anrufen, um zu erfahren, wann meine Kinder aus haben, später werde ich aber ohnehin angerufen, dass sie vier Stunden früher abzuholen sind. Das passiert zwei bis drei Mal pro Woche. Ich plane etwas, ich plane alle Eventualitäten ein, aber es gibt immer eine Variante, die ich nicht bedenken konnte. Ich breche meine Arbeit ab, bitte meine Schüler um Verzeihung, arbeite die verlorene Zeit später ein. Wir leben alle für den Tag, nicht für die nächste Woche. Was bei der Regierung beginnt, setzt sich bis zu meinem Mikrokosmus fort.
Eine beruhigende Ausnahme war die seriöse junge Tanzlehrerin, die immer gut vorbereitet ist und rechtzeitig höfliche Briefe schreibt.
Rückblende: Vor zwei Wochen kommt das Kind um fünf Uhr nachmittags nach Hause und sagt: Morgen musst du mich um elf Uhr zu einer Tanzprobe von der Schule aus bringen, wir tanzen Tarantella. Das sind die Sätze, die ich liebe. Ich greife nur nicht nach einem Maschinengewehr, weil ich immer daran denke, dass meine Freundin in der hochzivilisierten mitteleuropäischen Großstadt eines Tages von ihrer Tochter gesagt bekam, sie, die Tochter, müsse übermorgen in einem Leopardenkostüm in der Schule erscheinen, und das im Mai. Meine Freundin hat am nächsten Tag das Leopardenkostüm in einem Second Hand Shop gefunden, es schnell gewaschen und die Lehrerin gefragt, ob sie noch alle Tassen im Schrank hat. Die Lehrerin hat sich entschuldigt. Der Unterschied zu mir ist also nicht SO groß. Ich lebe in keiner Großstadt, habe immer nur bis morgen Zeit und die Lehrerinnen halten sich für völlig normal.
Aber da das Kind gerne tanzt, nehme ich mir am nächsten Tag um elf Uhr Zeit und gehe zur Schule. Ich erfahre, es handelt sich um Proben für eine festliche Aufführung anlässlich des hundertsten Jahrestags der Gründung des Ortskerns der Marina, nachdem die ursprüngliche Siedlung von einem Erdbeben zerstört worden war. Ich erfahre, dass ich das Kind drei Mal pro Woche zur Probe bringen soll, immer am Vormittag. Ich bin irgendwie erschlagen, aber auch enthusiastisch. Das Kind läuft aus der Klasse, gefolgt von seiner Freundin, einem Mädchen, dessen Beschäftigung es bereits mit 9 Jahren ist, sich in alles einzumischen. "Ich kann nicht zur Probe!" ruft das Kind, atemlos, sekundiert von der eifrigen Freundin, "Wir, die wir bei Maria Assunta sind, können nicht, wegen des Balletts!" Ich beruhige das Kind:"Jetzt bin ich schon mal da, gehen wir zur Probe und fragen später Maria Assunta, wo die Unvereinbarkeit liegt." Im Auto weint das Kind, aus Aufregung, aus Angst, etwas Unrechtes Maria Assunta gegenüber zu tun. Seine Lehrerin hat mir erklärt, dass es ausgewählt worden war, an einer Gruppe Tarantellatanz teilzunehmen, andere Kinder singen, andere machen gar nichts. Tarantella ist der hier übliche Volkstanz und es gefällt mir sehr, dass das Kind seine Zeit mit Tarantella statt mit Mathematik verbringen soll. Selbst MM tanzt auf entzückende Weise Tarantella. Ich will die Fähigkeit zu diesem Tanz auch in die DNA des Kindes einprägen. Das Kind hört auf zu schluchzen und wird von mir in einen Saal mit vielen anderen Kindern entlassen. Während der Tarantellastunde telefoniere ich mit MM. Wir sind uns einig, dass es keine Diskrepanz zwischen der Ballettstunde und der Tarantella geben kann und dass wir uns mit anderen Müttern organisieren werden, um das Kind am Vormittag diese Proben absolvieren zu lassen. Nach der Probe ist das Kind aufgelöst und glücklich und ich telefoniere viel und schaue in meinen Kalender. Am nächsten Tag spreche ich mit Maria Assunta, sicher, dass das Problem nur im Kopf der kleinen Freundin existiert. Weit gefehlt. Die sanfte Maria Assunta hebt die Stimme: "Ich kann niemandem verbieten, dort hin zu gehen, aber die Aufführung der Tarantella ist am 9. Juni und bei uns ist die letzte Probe am 9. Juni und wer nicht zur Probe kommt, der darf an meinem Ballett nicht teilnehmen." Auf meiner Stirn leuchtet in Neonfarben die Schrift "110 Euro, in zwei Raten zu 55 Euro für Kostüm Modern und Kostüm Klassisch" auf und ich unterbreche den Redestrom Maria Assuntas kühl. "Dann ist es ja klar." Maria Assunta sagt, sie hätte ein Jahr für ihr Ballett gearbeitet. Ich sage: "Wir auch." Sie sagt, Tanz werde nie ernst genommen, nur wenn es darum ginge, etwas aufzufüllen, sei Tanz plötzlich wichtig. Aber Tanz sei Arbeit und sie arbeite das ganze Jahr und sie sehe nicht ein, wieso dieses Aufführungen immer dann seien, wenn ihr Ballett stattfinde. Aha, das ist also nichts Neues, denke ich. Ihr Ballett wurde tatsächlich bereits um Weihnachten angekündigt und das Leben unserer erweiterten Familie kreist um dieses Datum. In Kürze werden wir zu beten beginnen, dass das Kind nicht krank wird. Ich finde, dass mich Maria Assunta unter Druck gesetzt hat und sie ist mir nicht mehr so sympathisch, aber ich respektiere ihre Arbeit und ihre Ernsthaftigkeit. Das Kind hat mitgehört und beteuert, es mache gar nichts, wenn es nicht mehr Tarantella üben geht. Ich denke, ich muss jetzt nichts mehr organisieren und so hat sich die Sache für mich erledigt.
Bis gestern.
Als ich in der Ballettschule das Kind abholen will, erfahre ich, dass am Donnerstag eine Lektion stattfindet, obwohl es sich um einen Feiertag handelt. Ja, sagen die beiden Mütter, die dort ebenfalls warten, Maria Assunta will den 9. Juni einarbeiten, an diesem Tag ist die Probe abgesagt. WAS?????? Von den anderen beiden Müttern, deren Töchter in die selbe Klasse wie das Kind gehen, erfahre ich, dass unsere Kinder die einzigen seien, die nicht an der Tarantella teilnehmen, andere Kinder der Ballettschule gingen sehr wohl zu beiden Veranstaltungen. Ich möchte mit Maria Assunta sprechen, aber sie ist im Gespräch mit einer anderen Frau, die auch sehr rasch aufgestanden ist, als sie gehört hat, dass (Ironie des Schicksals), die Tarantella vom 9. auf den 8. Juni verschoben wurde. Ich frage mich auch, woher die Leute das alles wissen. Ich schaue in der Bar jetzt manchmal auf die Lokalseite in der Zeitung, aber es hilft nichts, wer nicht regelmäßig eine halbe Stunde vor Schulschluss vor der Schule steht, um sich allen Tratsch anzuhören, wird in diesem Ort immer außen vor bleiben. Dann beschließe ich, nach Hause zu gehen, um mit MM zu sprechen. Seit fast 16 Jahren versucht MM mir beizubringen bis 10 zu zählen, bevor ich losdonnere und ich treffe ihn verschwitzt und mit Erde auf dem Hemd an, da er gerade den Garten bewässert hat: "Ich brauche ein therapeutisches Gespräch!". Wenn MM mich lächerlich findet, ist es fast angenehmer, als wenn er findet, jemand hätte ein schweres Unrecht an mir (an diesem Fall an unserem Kind) verübt. Schweres Unrecht begehen ja seiner Meinung nach nur die Herren (und Damen) rund um unseren Premierminister und ich habe mich schon ein bisschen daran gewöhnt, über diese Riege nur noch zu lachen. Ich bin überrascht, wenn aus Europa Verweise gegen Berlusconi kommen. Und jetzt hat Maria Assunta uns mit derselben Verachtung behandelt, wie Berlusconi die hirnlosen linken Wähler, die aus Milano eine Stadt der Zigeuner machen werden und die größte Moschee Europas dort errichten (womöglich an Stelle des Mailänder Doms...).
An diesem Abend versuche ich alles, um nicht immer daran denken zu müssen, dass Maria Assunta auch eine von denen ist, die schamlos mit der Zeit anderer Leute umgehen, die die glauben, dass ernsthafte Menschen sowieso eine Schraube locker haben. Die versuchen sich zu bereichern, egal an wem, Hauptsache bereichern. Die, die an heute denken, aber nicht an morgen.
Schlussendlich schreibe ich in meinen Kalender einen Termin nach der Ballettaufführung: Mit Maria Assunta reden. Ich hätte den Termin lieber schon heute in meinen Kalender gesetzt. Rancore heißt Groll auf italienisch. Aber ich werde ihr gegenüber das Wort Delusione, Enttäuschung gebrauchen.

Dienstag, 17. Mai 2011

volevo sentire la tua voce

Im Autobus sitzt ein Junge vor mir. Er wirkt wie siebzehn, unfrisiert und mit leichtem Bartwuchs. Ich beginne vor mich hinzudämmern, als mich seine Stimme aufschreckt, die unerwartet fest und laut ist: "Störe ich dich?" Es gibt schlimmere Anfänge von Telefonaten. Stille. "Ich hab's mir gedacht. Ich wollte nur deine Stimme hören. Bis später."
Zuerst denke ich, beachtlich, das aus dem Munde eines jungen Mannes. Sowas sagen doch nur Frauen. (Ich habe das einmal auf dem Anrufbeantworter meines damaligen Freundes gehört. Es war aber nicht meine Stimme. Warum auch? Ich war ja da. Die Frau, die nur seine Stimme hören wollte, sprach mich einmal auf der Straße an. Sie teilte mir mit, dass sie ohnehin nur einmal mit meinem Freund geschlafen hätte, und dass sie dann festgestellt hätte, dass es das nicht bringe. Zu meiner Beruhigung.) Diese Reminiszenz bringt mich auf den Gedanken, dass dieses Bedürfnis, die Stimme des anderen zu hören vielleicht gar nicht so nett ist. Wenn die Frau, die er anrief, schwer beschäftigt ist, und er ohnehin weiß, dass sie keine Zeit hat? Vielleicht ist der harmlos wirkende nette Bursche ein Stalker? Mir fällt ein, dass ich immer häufiger im Radio höre, dass junge Männer ihre Freundinnen erstechen, erschießen oder erschlagen, weil diese mit einem anderen zusammen sein wollen und die jungen Männer das nicht ertragen können. Komisch, vor zwanzig oder dreißig Jahren haben wir das alle ertragen. Ich fühlte mich trotz einiger Freiheiten (besser:Frechheiten) nie in Lebensgefahr und selbst die Frau, die nur einmal das enttäuschende Liebeserlebnis mit meinem Gefährten hatte, hat mich zu keinen Handgreiflichkeiten animiert. Was ist das? Ich möchte das wirklich wissen - warum das Leben heute so billig ist. Warum das Leben von Frauen so wenig wert ist. Und warum die Männer dann nicht ohne die Frauen leben können, wenn sie ohnehin umzubringen sind. Ich möchte mich in die Untiefen dieser Seelen begeben. Ich begebe mich zuerst der Einfachheit halber in meine, und da wird es mir schon schwarz vor den Augen.

Montag, 16. Mai 2011

more reading than writing

Genau in dem Moment, in dem ich beschließe, regelmäßigere Blogeintragungen vorzunehmen, geht blogger für Tage in tilt. Da kann die italienische Regierung ausnahmsweise nichts dafür. Während ich vor Schreibdrang zitternd am Schreibtisch sitze und die leicht verzweifelten Tweets der Blogger auf Twitter verfolge, lese ich auch andere blogs, von Menschen, die sich schon eine Domain gesichert haben und nicht so Freizeitblogger wie unsereins sind. Das Ergebnis meiner tagelangen Lektüre stimmt mich sehr unruhig. Ein Mann, der sein blog dem löblichen Vorhaben widmet, einen Marathon zu laufen, ohne Fleisch zu essen, verkündet, dass wir eine Stunde pro Tag mehr Zeit haben werden und also ALLES tun können, wenn wir, wie er, Kabel-TV kündigen. Da ich schon jahrelang keine Art von Fernsehen konsumiere, habe ich meine Stunde pro Tag schon lange einfach bewusstlos konsumiert. Verdammt!
Ich lese auch sehr gerne blogs, die auf irgendeine Weise das Wort simple im Titel tragen. Begierig sauge ich in mich hinein, auf welche elf Arten ich produktiver leben kann, ich bin versucht, mir ein Kleid nähen zu lassen (ich muss ja ohnehin wegen den Theaterkostümen zur Schneiderin), welches ich ein ganzes Jahre lang täglich tragen kann (geht auch verkehrtrum und man braucht 365 Accessoires), ich lese sieben unfehlbare Tipps, um natürlicher und billiger mein Haus zu pflegen, und ich bin maßlos enttäuscht. Außer der Erkenntnis, dass Wasserstoffperoxid Schimmel entfernt, habe ich schon alle Erkenntnisse gehabt, und ich denke, ich muss ein Fernsehteam zu mir einladen, denn produktiver als ich kann man gar nicht sein: ich mache mein Bett, meine Kinder machen das ihre, ich gehe früh schlafen und ich stehe früh auf, ich koche homemade organic food, meinen Kleiderkasten muss ich nicht ausmisten, weil ich ohnehin nichts anzuziehen habe, ich lächle, auch wenn mir nicht danach ist (fake it until you make it) und ich wasche pro Tag eine Ladung Wäsche. Warum bitte funktioniert bei mir nicht, was bei den Amerikaner offenbar hinhaut: A laundry a day keeps CHAOS away. Ich wasche immer weiter, unverdrossen. Eines Tages werde ich genug gewaschen haben und es wird passieren: Es ist kein Chaos mehr da. In der Zwischenzeit kaufe ich eine Domain für mein blog mit dem Titel: das komplizierte Leben oder wie ich monatelang trotz Befolgung aller guten Ratschläge zwischen unausgepackten Kisten saß und mein Garten verwilderte.

Donnerstag, 12. Mai 2011

una casa americana

Letzte Woche fand das Geburstagsfest des Rallyefahrers statt. Da seine Schule 45 Minuten von unserem Haus entfernt liegt, war die Abmachung folgendermaßen: das Auto hat sieben Plätze, er wird 12 und darf vorne sitzen. (Alle Italienier und Italienerinnen finden mich zutiefst suspekt, wenn ich darüber spreche, dass Kinder ab 12 Jahren im Auto vorne sitzen dürfen. Ich denke, sie glauben, dass ich einer Sekte angehöre.) Er informiert fünf Schulfreunde, ich rufe deren Mütter an, hole gemeinsam mit ihm die Jungs am Geburstag ab und bringe sie abends wieder nach Hause. Big Deal for me: keine Mütter. "Das kann ich von Ihnen nicht erwarten, dass Sie Ihr Kind so weit fahren", sage ich geheuchelt demütig am Telefon zu den Eltern. Alle sind froh, nur Frau Begünstigt macht mir fast einen Strich durch die Rechnung: "Kein Problem!" kräht sie, "ich bringe dir alle!" "Nononononono!" sage ich bestimmt.

Als wir auf unser Haus zufahren, sagt einer zum Rallyefahrer: "Ist dein Haus schön?" " Das weiß ich nicht, das musst du entscheiden", sagt der Rallyfahrer mit seiner minimalistischen Lebensphilosophie. Die Jungs purzeln aus dem Auto und rasen auf das Haus zu. Der erste Sturz. Sie umarmen erst den großen Bruder des Rallyefahrers, der den Hausherrn gibt. Dann rennen sie ins Haus. Schreie der Zustimmung. "WOW!" "Es ist riesig" "Es ist wie amerikanisch!". Dann die Bücher. "Schau mal die vielen Bücher!", Ehrfurcht (Grauen?). "Ich glaube, das ist eine Bibliothek!"

Danach mehrere Stunden im Laufschritt, der große Bruder hat die Carrera-Autobahn aufgebaut, sie hat großen Erfolg, der dann von den fernsteuerbaren Jeeps und den Fahrrädern getoppt wird. Nur der große Bruder und sein Freund gebärden sich als die Nerds der Situation.

Alle holen mit Geheul das Kind vom Schulbus ab, der Nerd im Trainingsanzug (Täuschung, es geht nicht ums Trainieren, sondern nur um möglischst geringen Zeitverlust beim Aufsklogehen) droht im Alter von 10 Jahren an einem Herzinfarkt zu sterben. Ja, bei uns geht es bergauf! Die anderen Jungs lassen sich im Schweinsgalopp die Steigung wieder runter.

Spannend wird es erst, als das Kind (mein Kind) Stöpsel Begünstigt stößt, als dieser trotz mehrmaliger Warnung den fernsteuerbaren Jeep durch eine Regenlacke fahren läßt. Stöpsel Begünstigt fliegt also ebenfalls in den Gatsch. Das hätte ich mir nie vom Kind gedacht und in seinem gemeingefährlichem Tun muss es nun neben mir in der Küche sitzen. Ich bereite meditativ Obstsalat zu. Schon lange war mir nicht so langweilig. Irgendwann fragt das Kind, ob es immer noch mein Schatten sein muss und ich befreie es. Es läuft beglückt weg und spielt ekstatisch mit Stöpsel Begünstigt. Ich glaube, ich verstehe nichts von Männerfreundschaften.

Auch dieser Tag geht zu Ende und unter konvulsivischen Hustenanfällen bringe ich die Kinder wieder nach Hause. Ein Kind schläft während der Fahrt und ich bekomme plötzlich Angst. Ich fordere ein anderes Kind auf, das schlafende Kind zu schütteln. Er atmet noch. Zum Glück kommt mein Verhalten den Kindern nicht komisch vor, sie wissen noch nicht, was Neurosen sind.
Ein Kind, das ich abgebe, sagt aufgeregt zu seiner Mutter: "Mamma, es war wunderschön, sie haben ein Haus alla americana!"
Ich schaue ihn liebevoll an. Ich glaube , ich muss mehr fernsehen, um zu verstehen, was er damit meint.

Mittwoch, 11. Mai 2011

Wiederaufnahme

Tatsächlich. Ich habe so lange nicht mehr geschrieben, dass ich die Adresse meines eigenen Blogs nicht mehr weiß. Ich atme durch den Mund. Meine Nase ist verstopft. Und wer weiß, was sonst noch alles. Ich habe etwa zwanzig Minuten Zeit. Das Kind ist zu Hause, da eine pensionierte Lehrerin gestorben ist und alle Lehrerinnen aufs Begräbnis gehen wollen. Daher entfällt nachmittags der Unterricht. Das Kind spielt Hund (Bubu) und besucht die Nachbarn. In zwanzig Minuten geht es zur anderen Schule. Dort proben die großen Kinder fieberhaft "I promessi sposi" für die Schulaufführung, die wahrscheinlich am selben Tag wie die Ballettaufführung des Kindes stattfinden wird. Da fällt mir ein, dass ich mit den Kindern zur Schneiderin muss. Ich dachte, das Stück sei modernisiert worden (schließlich muss sich der Rallyefahrer mit dem Internet verbinden), aber die Kostüme sollen aus 1861 (Einigung Italiens, alles dreht sich heuer um dieses Thema) stammen. Ich habe fast geweint, als ich das erfahren habe. Blöde habe ich zur Direktorin gesagt: Wie soll ich das machen? Als hätte ich gesagt: ich kann keinen Knopf annähen, bzw. brauche ich dazu eine Woche, wie sie sicher an den Schulschürzen meiner Kinder merken und kochen kann ich auch nicht, daher haben meine Kinder immer nur Mortadellabrote mit. Sie sagt kalt: Gehen sie zur Schneiderin und lässt Kopien der Kostüme aus einem Buch machen. Da sind Hemden mit Rüschen und Bundhosen und Jacken mit aufgeschlitzten Ärmeln, das kann man auch nicht als Hobbynäherin nachmachen. Wegen der Schuhe empfiehlt sie mir, zu den Chinesen zu gehen (ich bin da sonst nicht dafür, sagt sie entschuldigend) und China-Schuhe zu kaufen. Liebe Frau Direktor, die China-Schuhe, die Sie und ich in der Jugend getragen haben, gibt es wahrscheinlich seit zwanzig Jahren nicht mehr. All meine Gedanken kreisen um diese Schuhe, um diese Rüschen. Gestern war ein schlimmer Tag, da dem Rallyfahrer zwei Szenen entzogen wurden. Der Rallyefahrer war total beleidigt und ich ehrlich überrascht. Ich war schon überrascht, dass er seinen Text konnte. Ich war auch überrascht, dass die Direktorin sagte, er solle mit mehr "Ausdruck" rezitieren. Ich sagte ihr, da könne ich nichts machen, zu Hause sei er sehr ausdrucksvoll. Eigentlich wollte ich sagen: Das ist ihre Aufgabe, Frau Möchte-Gern-Regisseurin-Trampel. Zu Hause ist es zur praktischen Gewohnheit geworden, dass die Kinder rezitieren, während ich die Wäsche abnehme oder aufhänge. Der Text, den ich einsprechen muss, liegt dann auf dem Wäscheständer. Das hat dazu geführt, dass wir zum ersten Mal, seit wir ohne Putzfrau leben, nur etwa drei Waschmaschinen im Rückstau sind. Jetzt hat der Rallyefahrer kaum mehr Text und mir schwant Böses, was unsere Kleidung betrifft.

Donnerstag, 7. April 2011

Nihil nisi bene

Da die Reihe der Dinge, die mich aufregen, unübersichtlich lange geworden ist und ich nicht weiß, womit ich beginnen soll, entschließe ich mich, die schönen Dinge aufzuzählen, da dies, wie man weiß, schnell getan ist.
Äh.
Die kleinen Schafe, Lämmer genannt, springen hinter ihrer Schafmama auf der Wiese. Ich sehe sie, wenn ich auf dem Balkon die Wäsche aufhänge. Die Sonne scheint.
Zu Ostern werden sie geschlachtet, aber das gehört nicht mehr zu meinem Thema. Jetzt sind sie glücklich. Es war mir nicht klar, dass Lämmer die entzückendsten Tierchen der Welt sind.
Die meisten Bäume blühen und man kann den Blättern beim Wachsen zusehen. Man sollte sich die Zeit nehmen.
Das Kind sagt: "Weißt du, dass du normal bist?" Das freut mich unglaublich. Es meint allerdings nur meinen Bauchumfang. Es steht nämlich vor der Entscheidung, magersüchtig oder nicht zu werden. Müssen Neunjährige sich mit Körpermaßen beschäftigen?
Doch nicht vom Thema abschweifen.
Die Schafe blöken beherzt.
Es ist mir gelungen, die Treppe freizuräumen. Keine Schachteln mehr auf der Treppe. Die Faschingskostüme sind verstaut. Meine Familie merkt es! Das Haus sieht ordentlicher aus. Vielleicht muss ich schon bald meine spritzige Nachbarin nicht mehr davon abhalten, einzutreten.
Heute werde ich eine Bank abräumen, auf der seit Wochen eine riesige Schachtel steht, deren Inhalt ich nicht mehr genau kenne. Auf der Schachtel liegen ein ungebrauchter Polster und eine Schreibtischunterlage. MM kann nicht glauben, dass ich das Zeug wirklich irgendwo verstaue. Er denkt, er wird die Schachtel einfach an einem anderen Ort wieder finden. Oder er hat Angst, ich schmeiße stilschweigend alles weg. Tatsächlich lebe ich mit einem schwarzen Müllsack, den ich täglich wechsle. Es macht Spaß, Dinge wegzumschmeißen, und ich frage auch manchmal nach. Was ich ohne nachzudenken wegschmeißen würde, ist die italienische Regierung. Mein Lieblingswort seit gestern ist: Ostruzione, Obstruktion. Und ich meine damit nicht die Verschleimung meiner Atemwege, sondern "ein Verhalten in der Politik, das politische Vorgänge behindert", wie es bei Wikipedia heißt. Die Opposition betreibt Ostruzione, da im Parlament der "processo breve", der kurze Prozess beschlossen werden soll. Dadurch würden die Prozesse, die dem italienischen Premierminister zu Ehren veranstaltet werden, ausgelöscht werden. Und dabei geht es nicht nur um Ruby, sondern auch um seinen Medienkonzern. Neun Minuten kurz war der Prozess von gestern, die nächste Folge sehen wir am 31. Mai. Gezeigt hat sich Herr Berlusconi nicht. Dafür ist Herr Berlusconi nun Bürger von Lampedusa oder wird es demnächst. Um der Insel, die sich einem großen Flüchtlingsstrom ausgesetzt sieht, zu helfen, hat er dort eine Villa gekauft, die er vorher im Internet gesehen hat. Vor einigen Jahren erzeugte eine Gruppe von kabarettisten Barbie-artige Puppen, die Berlusconi als Arbeiter oder als Verkäufer darstellten, denn Belusconi ist immer das, womit er sich beschäftigen muss. Heißt das Populismus? Nun kann man die "Berlusconi ist Lampedusaner"-Puppe hinzufügen. Der Arbeiter-Präsident ist Insulaner geworden. Meinen Prosecco, den ich für den 6. April eingekühlt hatte, hab ich jedenfalls geöffnet. Einfach so. Grund ist mir keiner eingefallen.
Roberto Saviano hat eine Liste des Glücks geschrieben. Vielleicht ist sie länger als meine. Ich werde sie jetzt lesen.