Sonntag, 7. August 2011

Ode an MS

Wer nie geraucht hat, kann nicht verstehen, dass nach gewissen Tagen nur eine Zigarette, eine bewusst und in Ruhe gerauchte Zigarette vermitteln kann, dass der Tag abgeschlossen und vorbei ist, dass der oder die Raucherin überlebt hat und nun eben endlich, ganz für sich, diese Zigarette rauchen kann, auf die er oder sie so lange gewartet hat und die er oder sie sich so redlich verdient hat.
Leider rauche ich seit 13 Jahren nicht mehr, seit 13 Jahren beraube ich mich dieser einzigartigen Genugtuung. In der letzten Woche gab es jeden Tag einen Tag, an dessen Ende eine Zigarette geraucht werden wollte. (Zigaretten wollen nicht geraucht werden, Zigaretten wollen gar nichts, sie können weder verstehen noch einen Wunsch haben, würde ich dem Kind sagen....)
Am Ende dieser Tage voller Tanz und vierzehntem Geburtstag (vierzehn, das ist: Schweiss, Ärger, Computerspiele, Flüche, Ungeduld, masslose Selbstüberschätzung und masslose Selbstvernichtung) packte die Dattilografa mit den anspruchsvollen Mantras "One bag only" und "Reisen mit leichtem Gepäck" drei tonnenschwere Koffer und begab sich mit den Kindern auf eine Reise. Das Kind rief: "Ich weiß nicht, wie ich das schaffe, so glücklich zu sein, vielleicht ist das, weil wir reisen!" Die Dattilografa reist nicht mehr so leicht wie früher, weil "la fila indiana", der Gänsemarsch hinter ihr, immer beobachtet werden muss.
Fern vom kalabresischen Ehemann und dem Garten, den Zikaden, Fröschen und der flirrend heißen Luft sitzt die Dattilografa in der kleinen Küche am Computer und weiß, dass noch irgendwo eine Schachtel MS versteckt sein muss. Sicher staubtrocken nach so vielen Jahren. Aber der Ruf der Wildnis, der manchmal leiser wird, ist im Hintergrund immer zu hören. Immer.

Mittwoch, 3. August 2011

Worte der Woche: amorevole und amoroso

Ein wesentlicher Bestandteil unseres etwa 3500 Quadratmeter großen Obst- und Gemüsegartens ist ein Wasserbecken, in dem das Wasser, das aus wunderbaren Gründen aus einer Quelle zu uns kommt, gesammelt wird, bevor wir damit den Garten gießen. Wenn wir das Wasser nicht brauchen, fließt es durch ein Rohr weiter, mischt sich mit anderem Wasser und geht in den Wildbach. Wenn wir gießen, öffnen wir ein anderes Rohr und schleppen Schläuche zu den Furchen, in denen Tomaten, Auberginen (in Österreich als Paradeiser und Melanzani bekannt), Kürbisse, Gurken, Paprikaschoten und anderes wachsen. Wenn das Wasser in die Rinnen gluckert, fühlt man sich wie ein Wasserbauexperte und hat das Gefühl, sein Leben extrem sinnvoll zu gestalten und sich sein Abendessen oder sein Frühstück, je nach Zeit dies Gießens, rechtschaffen verdient zu haben. Leider gehört die Putzorgie, die wir vor zwei Jahren im Wasserbecken veranstaltet haben, dringend wiederholt, denn es haben sich Algen gebildet und die Abflüsse funktionieren nicht einwandfrei und wir müssen regelmäßig kontrollieren, ob das Becken übergeht. Das fällt uns neuerdings nachts ein und MM und ich gehen dann leichtherzig mit einer Taschenlampe in den Garten, während die Kinder vor dem Fernseher oder dem Computer sitzen. Über uns sind reichlich Sterne zu sehen. Im Wasserbecken sitzen die Frösche und halten erschrocken in ihrem Gesang inne. Wir leuchten sie an und sie tun so, als wären sie gar nicht da, aber sie sind deutlich zu sehen, sie passen auf einen Handteller, sind grellgrün, haben hervorquellende Augen und eine Blase an der Kehle, die aussieht, als hätte das Kind seinen Kaugummi oder seine Spuckeblase hingeklebt. Wenn wir das Licht ausmachen beginnen sie wieder: "QUAQUAQUA!". Von der Mauer über dem Wasserbecken hallt es wider, den ganzen Hügel hinunter. Ohrenbetäubend. "Warum tun sie das?" fragt mich MM. "Aus Liebesgründen", will ich mit größter Überzeugung sagen, aber ich verwende ein falsches Wort und sage: "Aus Gründen der Liebenswürdigkeit." MM sieht mich an. Sein Blick sagt: "Meint sie das ernst?". Er leuchtet wieder die Frösche an. Sie schweigen beleidigt.

Die Tatsache, dass nur noch fünf Wochen Ferien sind, versetzt mich geradezu in Panik. Ich muss meinen Kindern doch noch so viel beibringen, bevor sie wieder in der Schule verhaftet sind. Da aber bereits 8 Wochen Ferien hinter mir liegen merke ich auch gewisse Erschöpfung, was mich selbst betrifft. Ich habe Briefe an Gremien geschrieben, um eine Lehrerin in der Klasse des Kindes zu halten, ich habe das Kind erfolgreich auf dem zeitaufwändigen Weg zu seiner zweiten Ballettaufführung begleitet und ich habe aus Gründen der Liebenswürdigkeit eine kräfige Überdosis an sozialen Kontakten genossen, die sich nicht als Zuschuss an heiteren Geschichten in meinem Blog verewigt, sondern beklemmende Seelenzustände hervorgerufen hat. Ich habe viel gekocht und mir viel vorlesen lassen. Ich löse gemeinsam mit dem Kind das Geheimnis des gelben Drachens, bin mit dem Rallyefahrer zusammen darüber entsetzt, dass die Feen im Wald sterben und amüsiere mich mit dem demnächst Vierzehnjährigen über die abartigen Streiche, die Gianburrasca in seinem Tagebuch beschreibt. Viel lieber würde er mit mir über Videogames reden, aber ich will, dass er liest.

Alles in allem fühle ich den unverkennbaren Drang nach Grenzüberschreitung in mir aufsteigen. Ich bin zu gut gelaunt, um nach der üblichen Pumpgun zu verlangen und ich muss auch nicht zwangsläufig etwas sprengen, das heißt, die Gefahr ist groß, dass ich auf einer knatternden Vespa durchbrenne, zumindest einen Nachmittag lang. Ach, könnte man nur Ferien machen wie damals, an Orten, an die man nie mehr zurückkehrt, an denen sich die eigenen Spuren langsam verwischen und der Wind den Sand verbläst. Könnte man etwas Verbotenes tun mit aller aufzubringender Ernsthaftigkeit. Lieder in einer fremden Sprache schmettern und mit jungen Männern tanzen. Auf fremde Dächer steigen und aus voller Kehle quaken, aus Liebesgründen natürlich.

Freitag, 8. Juli 2011

Die Garage und andere Erfolge

Angesichts der Weltlage (Berlusconis permanente Niederlagen erwecken Hoffnung, aber sonst?) scheint es blasphemisch über Garagen zu schreiben. Eine Frau, die einen Organisationsblog schreibt, hat sich für den Monat Juni vorgenommen, ihre Garage zu entrümpeln und aufzuräumen. Zufälligerweise ist diese Frau auch kürzlich (äh, ist mein Jahr Umzug kürzlich?) umgezogen. Als ich von diesem Vorsatz las, dachte ich: "Was will die einen Monat lang ihre Garage aufräumen? Nichts leichter als das! Das mache ich auch!" Als dann um den 10. Juni eine Mitteilung von ihr kam, es wären Stürme in dem Teil Amerikas, in dem sie lebt, und zum Glück hätte sie ihr Projekt bereits abgeschlossen, um ihr Auto sicher verwahren zu können, stand bei mir immer noch das Gerümpel vor der Garage und ich hatte alle Teile von einem Teil in den anderen geworfen. Die Garage zu bändigen war in etwa wie den Rubikwürfel, den ich auch in der Garage gefunden hatte, richtig zusammenzusetzen. Irgendwann will man den Würfel mit einem Hammer bearbeiten und so ging es mir mitunter, wenn ich auf die dort verwahrten Teile blickte. Das Grundübel war, dass dort die letzten Teile des Umzugs gelandet waren und offenbar war das Auto bei Regen und in der Nacht ausgeladen worden, denn ohne Hirn und Herz waren Alukoffer auf Maurerbalken gestellt worden, die dort bequem Platz einnahmen, bevor der letzte Rest aus dem alten Haus gekommen war. Nur mit Hilfe meines großen Sohns, der davor zur Übung einige Tage mit Lego konstruiert hatte, gelang es mir vor ein paar Tagen, der Juni war berits Vergangenheit), die Holzbalken und das Gerüst so zu schlichten, dass vielleicht ein Auto in die Garage passt, zumindest mit der Motorhaube. Ich habe es noch nicht probiert, denn im Moment stehen die Fahrräder vor der Garage. Wir haben es auf 8 Fahrräder gebracht, von denen drei dem Kind gehören und das Kind kann nichts weggeben oder wegwerfen (Das ist meins! Das ist meins!). Aufgetaucht sind wieder die Filmrollendöschen - mein Freund der berühmte Fotograf hat eine Skulptur in Lamezia Terme angeregt, ich glaube, aus diesem Projekt wird was. Weiters Glaselemente eines Hochspannungsmastes, die ich nicht wegwerfen darf. Sie können aber an einem weniger wichtigen Ort gelagert werden, gesteht MM zu. Was meint er damit? Unter dem Bett?

Es gibt jetzt auch ein Regal mit Kinderspielsachen für draußen, allein es mangelt an der Vollständigkeit der einzelnen Spiele. ("Haben sie Badmintonbälle?" "Jaja, Bälle!" "Nein, keine Fußbälle! Das sind Bälle mit einem Art Indianerzelt unten." "Jaja mit Federn, jaja. Nein, haben wir nicht!") ("Haben sie Bälle für Beachvolley?" "Jaja, hier - komplette Packung mit Schlägern!" - so kommen wir zu 28 Beachvolleyballschlägern ohne Ball...). Besonders ärgerlich ist, dass meine Kinder prophezeit haben, wir würden diese Bälle nie zu kaufen bekommen. Ich habe ihnen darauf einen eindrucksvollen langatmigen Vortrag zum Thema Pessimismus gehalten.

Im Lauf der Recherche zum Thema Garage stellte sich heraus, dass viele Menschen ihr Auto vor der Garage stehen haben. Wenn ich es schaffe, mein Auto zumindest in Richtung Eingang zu parken, werde ich das Gefühl haben, einer Avantgarde besonders gut organisierter Menschen anzugehören. Die Organisationsspezialistin hat ein Foto ihrer entrümpelten Garage veröffentlicht. Verglichen damit habe ich es gar nicht mit einer Garage zu tun, sondern mit einer Hütte.

Das ist egal. Und sonst fallen mir eigentlich gar keine anderen Erfolge ein, außer dass ich zwei Geburtstagsfeste von kleinen Mädchen überlebt habe (eines davon mit zwei Animatorinnen in Leopardenblusen und hochhackigen Schuhen, die das Fest eher moderierten als animierten), bei denen mir erstmals klar geworden war, warum Menschen schreiben, dass ihnen das Herz überquillt, oder ähnliches. Tatsächlich quoll mir das Herz über vor Mitgefühl dem Kind gegenüber, das diese events peinlich berührt über sich ergehen ließ. Es gelang ihm sogar, ihnen etwas abzugewinnen. Das nahm mich wirklich für ihn ein.

Montag, 4. Juli 2011

Una domenica bestiale*

Ich genieße den Überschuss an Wärme, zirpenden Grillen, reifenden Feigen und Gemüse. Teresa, meine Nachbarin, ruft an und sagt, sie hat mir Salat und Zucchini vor die Tür gelegt. Da sind auch noch jede Menge Zwiebeln und Gurken. Ich habe sie nicht gehört, als sie mich persönlich rief, ich war selbst im Gemüsegarten. Unser Gemüse wirkt wie die kleinen Geschwister von Teresas Gemüse. Wir dilettieren ja noch und sind mit allem zu spät dran.
Gestern, einem Sonntag, habe ich die Kinder, die sich nach diesem Marathonschuljahr der Muße hingeben und sehr ungestresst sind, bereits um 10 Uhr aus den Betten berufen, damit sie mit mir Weichseln pflücken. Ich begegne den Weichseln mit großer Skepsis, denn ich finde es ungemein schwierig, sie zu entkernen. Ich glaube daher, dass die Tonnen an Cornetto con Crema e Amarena mit einer anderen Marmelade als der von Weichseln gefüllt ist. Ich glaube so viele Weichseln gibt es gar nicht. Was mag das für eine Marmelade sein, in Wirklichkeit? In welchem Labor wird dieses Aroma hergestellt? Und was ist das, was so tut, als wäre es eine halbe Weichsel?
Wir schreiten zum Weichselbaum. Der Rallyefahrer knallt die Leiter gegen das Auto. MM steht im Weingarten und sieht mit seinem Strohhut aus wie Van Goghs Bruder. Teresa ruft mich. Sie ist von der Ansammlung der Häuser herabgestiegen um die Arbeiten zu besichtigen, die an einem Teil der kleinen Straße, die zu unserem Haus führt, stattgefunden haben. Zwei Wochen im Jahr benutzen diese Straße auch andere Menschen, die ihr Haus nur im Sommer aufsuchen und dabei von unserer Straße abbiegen. Da es für diese Menschen wichtig ist, auf einer für sie funktionalen Straße zu fahren wurde der Weg etwas verbreitert. Eigentlich schaut es fürchterlich aus, so als hätte ein wildes Tier den Zement aufgerissen und mit Erde bedeckt, aber die Erfahrung des letzten Jahres lehrt mich, dass all diese Wunden am Bestehenden vernarben und eines Tages schaut alles, wenn schon nicht so aus wie früher, dann immerhin so, als wäre es immer schon so gewesen.
Ich schlendere zu Teresa, meiner dynamischen, rundlichen und immer korrekt geschminkten Nachbarin Mitte fünfzig, und stehe mit ihr unter dem Kirschbaum im Schatten und sie erklärt mir etwa ein Dutzend Möglichkeiten, die Weichseln zu verarbeiten. Mitten im Satz unterbricht sie sich und schaut starr auf meinen Arm. Ich denke, sicher sitzt dort eine Stechmücke. Sie beugt sich nach vor. Gleich wird sie die Stechmücke auf meinem Arm erschlagen. Doch nein, sie geht langsam in die Knie und kommt rasch auf der Erde auf. Mit bestürzender Langsamkeit realisiere ich, dass sie zusammengebrochen ist. Ich sage "perchè?" und diese Frage nach dem Warum ist einfach idiotisch. Ich frage mich tatsächlich, warum sie sich da vor mir auf die Knie fallen lässt, statt mich auf sie zu stürzen und sie hochzuziehen. Irgendwann tue ich das dann doch. Ich tätschle sie und ich merke, dass diese meine Mischung aus Apathie und Ruhe auch ein Schockzustand ist. Ich habe das Gefühl, als hätte ich das schon oft erlebt. Wir steigen langsam die Straße und dann die Treppen zu ihrem Haus hoch. Sie ist blaß, aber redet ununterbrochen, das beruhigt mich. Gleich nach dem Sturz hat sie sich recht normal verhalten, ich merke, sie regt sich jetzt immer mehr auf. Bring mich nach Hause, Schatz, sagt sie. Mach dir keine Sorgen, Schatz, antworte ich. Der Rallyefahrer und das Kind folgen uns gemessenen Schrittes. In der kleinen Ansammlung an Häusern geht das Kind die Schwägerin von Teresa holen. Ich öffne das Haus, Teresa will Wasser. Von der Leitung? Nein, aus dem Kühlschrank. Die Schwägerin kommt und übernimmt die Erstversorgung mit Wasser aus dem Kühlschrank und Zucker. Teresa geht es nach diesem Getränk besser, ich befürchte, ich wäre jetzt, nach dem kalten süßen Wasser zusammengebrochen. Ich frage sie, ob sie etwas gegessen hat. Ach, bei dieser Hitze, was soll man da essen? Sie hat eine Frucht und eine halbe Gurke gegessen. Hätte ich nicht bereits ein Marmeladebrot und ein Joghurt mit Feigen intus wäre ich auch in die Knie gegangen, denke ich. Dass diese Italiener nie richtig frühstücken!
Jetzt passiert etwas Unvorhergesehenes: statt sich besser zu fühlen, beginnt Teresa in Panik zu verfallen. Was hat sie eigentlich, fragt sie sich und reibt sich den Magen. Ich fühl mich gar nicht gut! ruft sie aus und ruft ihren Mann und ihren Sohn an. Sie will ins Spital fahren. Ich kann sie hinbringen, aber nein, es gibt auch noch den Bruder. Mittlerweile ist außer der Schwägerin auch noch die Schwester da. Niedriger Blutdruck, sagt diese und beginnt zu erzählen, wie ihr das vor einem Jahr auch passiert ist. Sie schenkt Fruchtsaft ein. Teresa möchte keinen Fruchtsaft, das Glas wandert zum Kind, gemeinsam mit meinem Glas, ich möchte auch keinen Fruchtsaft. Der Bruder kommt. Teresa schnappt nach Luft und reibt sich den Magen. "Bring mich ins Spital", bittet sie den Bruder. "Aber das ist niedriger Blutdruck", sagt der Bruder, "und sie ist etwas nervös, manche können sich da besser kontrollieren." setzt er nach, doch sein Blick ist durchaus nett. Ich schlage Teresa vor, sich aufs Sofa zu legen und die Beine hochzulagern. Das fällt mir ein, weil das meine Freundin eine Woche vorher bei der Erstkommunion ihres Sohnes machen musste. Doch für Teresa kommt das nicht in Frage, sie muss sie dazu erst waschen. überhaupt muss sie sich jetzt waschen. "Na gut, dann wasch dich und dann schauen wir wegen dem Spital" lenkt der Bruder ein. Die Schwägerin gießt Eistee ein, Teresa möchte keinen Eistee, das Glas wandert zum Kind. Das Kind beginnt sich zu freuen. Die Schwägerin sagt, sie werde die Signora fragen, die hätte ein Blutdruckmessgerät. Sie geht ab, die Schwester kommt wieder. Sie gießt Coca Cola ein. Teresa möchte kein Coca-Cola, das Glas wandert zum Kind. Das Kind strahlt. Vielleicht möchte Teresa Crackers oder Kekse oder Zwieback, werfe ich ein, inspiriert vom eigenen flauen Gefühl im Magen. Eine Packung fader Crackers landet vor dem Kind, Teresa öffnet eine Packung von mit Paprika gewürztem Salzgebäck. Das Kind fragt nach einer Anstandssekunde, ob es die auch essen kann.
Teresa und das Kind teilen sich das Salzgebäck.
Teresa fällt plötzlich etwas ein - sie stürzt sich auf das Telefon und gibt rasch eine Nummer ein. "Ich muss meine Tochter anrufen!". Diese antwortet sofort. Teresa fragt sie, wie es ihr geht und was sie macht. Die Antwort scheint sie aber nicht besonders zu interessieren, denn sie sagt gleich: "Liebes Kind, erschreck dich nicht, aber mir geht es gar nicht gut. Ich bin gefallen und werde nun ins Spital fahren." Gleich darauf heißt es: "Nein, nichts,mach dir keine Sorgen. Nein, ich habe mir nicht weh getan. Es geht mir gar nicht gut. Mir tut der Magen weh. Mir ist schwarz vor den Augen geworden.Gut, ich ruf dich später an."
Sie läßt sich wieder auf den Stuhl fallen und greift in die Tüte mit dem Salzgebäck, das Kind ebenfalls.
Die Schwägerin kommt mit der Signora, die das Blutdruckmessgerät haben soll. Ich muss zwei Mal hinschauen, um meinen Augen zu trauen: eine ganz dünne ältere Frau mit grauen Haaren, die zu einem schlampigen Zopf zusammengebunden sind, stechend blaue Augen, ein schmaler Mund, braun gebrannte Haut, mindestens sieben kleine Ohrstecker in einem Ohr, eine geblümte weite Hose, eine orientalische Bluse, in der noch die Bügelfalten zu sehen sind, riesige Hände, in einer hängt eine halb gerauchte Zigarette. Sie trägt klobige schwarze Tennisschuhe, in denen ihre Füße ohne Strümpfe stecken. Für einen Moment fühle ich mich nach Apulien ins Haus meiner Freundin versetzt, in dem amerikanische Künstlerinnen und andere interessante Menschen ein und aus gehen. Aber ich bin hier, bei mir, in meinem biederen Kalabrien und frage mich, wer diese Dame ist, die jetzt loszubellen beginnt: "Wo ich hinkomme, geht es jemandem schlecht. Was hast du bloß angestellt? Na? Gib's zu. Warum musstest du mich stören?" Teresa ist nicht beleidigt, aber doch ein wenig eingeschüchtert. Die Schwester stellt einen Aschenbecher auf den Tisch. Die Frau hat auch mir einen strengen Blick zugeworfen, ich mag sie gleich. Sie schüttelt mir mit ihrer nun zigarettenfreien Pranke die Hand. Kurz darauf sagt jemand, dass ich MMs Frau bin. Wieso kennen denn alle MM? Immerhin sagen sie nicht, ich bin des Kindes Mutter, auch das ist schon oft vorgekommen. "Ah!" sagt die Griesgrämige, "dann bin ich also ihre Nachbarin." Au Backe, damit hätte ich nicht gerechnet. Neben uns ist in diskreter Entfernung ein diskret renoviertes altes Steinhaus, das im Besitz einer Familie ist, die nur selten und wenn am Wochenende kommt. Teresas Bruder und die Schwägerin pflegen gegen Entgelt das dazu gehörige Land und daher kommen sie auch immer an unserem Haus vorbei. Die Kommunikation mit den für mich unbekannten Nachbarn im Steinhaus mit dem Oleander davor lief immer über die Teresas Bruder. Die brummige Frau lächelt und entblößt schöne Zähne. Wir küssen einander auf die Wangen.
Dann widmet sie sich Teresa und läßt sich erzählen, was passiert ist. Ein Kind aus dieser Großfamilie betritt das Zimmer und beginnt eine angeregte lautstarke Konversation mit dem Kind. Es darf raus, flüstere ich dem Kind zu, es darf mit dem anderen Kind spielen. "Moment!" sagt es, "nur noch ein wenig Salzgebäck!" und greift beherzt in die kleine Tüte vor Teresa. Dann fühlt die dünne Frau Teresas Puls. "Haben Sie kein Blutdruckmessgerät?" fragt Teresa enttäuscht. "Nein, habe ich nicht", blafft sie die Frau an. "Glaubst du ich renn hier mit einem Blutdruckmessgerät rum?" Sie schaut in Teresas Augen, indem sie die Lider hoczieht. "Du hast nichts." sagt sie entschieden. "Dir fehlt gar nichts. Du musst nur abnehmen!" Teresa reibt sich zur Bestätigung den Bauch und sagt, sie hätte ohnehin nichts gegessen. "Aber nicht in der Früh nichts essen!" kreischt meine entnervte Stimme. Allein die Vorstellung, wie diese Italiener so viele Stunden nüchtern bleiben können um dann zu Mittag Tonnen zu essen regt meine Magensäure an. Die dünne Frau erkennt den Partner in mir:"Leider haben die Südländer diese schlechte Angewohnheit, morgens nichts zu essen!" Sie macht Teresa ein paar Vorschläge, was sie morgens essen könnte, aber diese schüttelt immer nur den Kopf. "Das schmeckt mir nicht!" Parallel dazu bietet die Schwester der dünnen Frau Getränke an: "Tee?" "Nein, danke!" "Kaffee?" "Nein, kein Kaffee." "Kalten Kaffee?" "Nein." "Coca Cola?" "Nein." "Saft, Bier?" Die Abfolge wird immer schneller. "Nein!" sagt die dünne Frau und blickt auf den Boden, was ich in Zukunft von ihr übernehmen werde, "ich will nichts." "La signora è decisa.", sagt die Schwester mit einer Mischung aus Brüskierung und Resignation. Die Signora ist entschlossen.
Mittlerweile sind wir bei einer veritablen Anamnese angelangt. Teresa zählt alle Krankheiten der letzten Jahre auf. Ich überlege, ob ich gehen soll, aber auch die Nichte steht mittlerweile in der Tür und ich kann nicht einfach verschwinden, ohne mich zu verabschieden, also entschließe ich mich, so zu tun, als wäre nichts. Der Rallyefahrer sitzt seit einer halben Stunde vor der Tür, ihm hat man nichts angeboten. Später schicke ich ihn mit dem Auftrag nach Hause, MM zu sagen, was passiert ist. MM wird etwa zehn Minuten nach der Rükkehr des Rallyefahrers davon in Kenntnis gesetzt, dass Teresa gestürzt ist und sich am Knie verletzt hat. Was nicht ganz unwahr ist.
"Kein Wunder, bei diesem Gewicht!", sagt die dünne Frau, als Teresa Schmerzen im Knie beklagt. "Ihr müsst abnehmen Mädels!", die dünne Frau macht einen Rundblick. "Ihr esst wie die Schweine!", die Schwester, die vor der Tür steht, schaut erschrocken. Danach sehe ich sie nicht mehr. Ich bin mir nicht sicher, ob ihr die dünne Frau auch so sympathisch wie mir ist. "Ich habe zu rauchen aufgehört, vielleicht sollte ich wieder anfangen?" wendet sich Teresa hoffnungsvoll an die dünne Frau. Diese übergeht den Einwand. Teresa eilt in ein anderes Zimmer, um ärztliche Atteste zu holen, in denen es um ein Magengeschwür geht, das durch Heliobakter hervorgerufen wurde. Teresa berfürchtet nämlich, wieder ein Magengeschwür zu haben. Warum sollte sie, fragt sich die dünne Frau, ist aber doch bereit, sich alle Unterlagen anzuschauen. Wir sind nun allein. "Sind sie Ärztin?" frage ich. "Ich war Ärztin, ich bin schon eine Zeitlang in Pension. Und wie gefällt es ihnen hier?" "Gut!" sage ich, "und jetzt noch besser, weil sie meine Nachbarin sind. Vielleicht sollten wir gleich du sagen?" Die dünne Frau schaut veträumt zu Boden. "Ja, vielleicht besser so." Sie nennt ihren Namen. Ich bin etwas überrascht über meine stürmische Annäherung, aber durchaus heiter. Sie hat unsere großen Umbauten bemerkt und wollte schon öfter mit ihrem Mann vorbeischauen, aber der meinte, vielleicht wäre uns das nicht recht. "Aber nein," sage ich, "wir freuen uns!" Der Gedanke streift mich, dass ich vor 36 Stunden geweint habe, weil der Installateur in ALLE Räume gehen musste, um den Kostenvoranschlag für die Heizung zu machen und dass MM mich gebeten hat, zu gestehen, wo ich all die Bügelwäsche habe verschwinden lassen und dass ich einen ganzen Tag lang gelobt werden wollte, weil ich binnen einer Stunde das Haus so aussehen habe lassen, als wäre ich nur leicht verückt und nicht total verantwortungslos.
Sie erzählt, dass sie im letzten Jahr kaum "auf dem Land" war, weil sie ein Haus renovieren musste, da ihr Sohn im September heiratet und was das heißt, renovieren, das wisse ich ja. Sie werde jetzt mehr kommen, denn das Leben im Dorf behage ihr nicht mehr.
Da kommt schon Teresa mit den Papieren. Auch ihr Sohn ist nun da, er hat ein Eis mitgebracht, sie will es nicht, das bekommt der sich selbst zum Türsteher ernannt habende Rallyefahrer. Es sei ihm vergönnt. Ich finde den Sohn nett. Außerdem ist er unaufgeregt. Die dünne Frau schaut sich die Atteste an und sagt, was zu tun ist. Ich finde es sehr interessant. Ich wünschte, sie wäre noch immer Ärztin, ich würde gleich zu ihr gehen. Teresa gesteht, dass sie Angst hatte, einen Gehirnschlag zu haben. "Nein", sagt die Ärztin, "ein Gehirnschlag kommt nicht so daher!" Traurig schaut sie auf ihre staubigen Schuhe. Ich glaube, sie würde gerne rauchen. "Wenn du zu schwitzen beginnst, mach eine Pause!" lautet die abschließende Feststellung. Das solle ich auch meinem Mann sagen, ruft der Bruder fröhlich bei der Tür rein. Ich bin verunsichert, weil ich den Scherz nicht ganz verstehe. Oder hat er MMs verschwitzte T-Shirts gesehen? Die Tipps fürs Abnehmen werden auch wiederholt. Und dass man auch seine Grenzen kennen müsse, sowie akzeptiern, dass man nicht mehr so jung ist. Aufs Stichwort kommt die etwa vierzigjährige Tochter bei der Tür hereingestürzt und beginnt zu weinen. Ihr Mann wirft nur einen kurzen Blick in die Runde, der besagt: "Das kenn ich schon, deshalb hab ich jetzt da mit 100 Stundenkilometern raufdonnern müssen!" Die dünne Frau geht. Teresa sagt zur Tochter: "Möchtest du dir Salat mitnehmen?" Die Tochter schreit: "Ich bring dich um!", aber sie hört zu weinen auf und redet rasch auf ihre Mutter ein. Ich mache noch einen Scherz mit ihr und gehe auch, die unmittelbare Lebensgefahr ist ja jetzt gebannt.

In der ärgsten Mittagshitze pflücken wir die Weichseln, der Rallyefahrer ist verdrossen, sein großer Bruder trägt einen läppischen orangeroten Safarihut aus Plastik, den er vor ein paar Jahren in einem Überraschungsei gefunden hat. Ich entwende ihm den Hut und setze ihn selbst auf, ich bin das Gegengewicht auf der Leiter und mir fallen dauernd Weichseln auf den Kopf.
Am nächsten Tag erzählt Teresa, sie hätte am Sonntagabend noch Blutdruck gemessen und er wäre 90/60 gewesen. "Na stell dir vor, wie niedrig der morgens war!" Sie hat nun die Lösung gefunden, klar, alle wollen wir wissen, worunter wir leiden.
Der Rallyfahrer gesteht, er hätte lachen müssen, denn Teresa hätte immerzu "Mamma, Dio" gestammelt. "Und du, was hättest du gesagt, wenn du gestürzt wärst?" frage ich ihn. Ich hätte nur "Mamma!" gerufen, antwortet er vergnügt.

*Titel eines Liedes von Fabio Concato aus dem Jahr 1982

Donnerstag, 16. Juni 2011

Moments of Glory

Es gibt Momente, von denen man weiß, sie sind nur jetzt und morgen ist alles wieder genauso wie immer. Charlotte Wolff hat ein Buch mit dem Titel: "Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit" geschrieben, aber ich zweifle an dieser Aussage. Für mich sind es Fenster aus der Zeit, aus denen wir auf etwas schauen, was auch möglich ist. So ein Moment ist, wenn man das Resultat des Referendums erfährt, das Quorum ist erreicht und es fühlt sich an, wie wie wenn etwas Neues beginnen würde, eine vielversprechende Reise. Doch sie sind alle noch da, die schrecklichen Politiker und Journalisten und gleich sagen sie Dinge ohne Fundament.

Ein anderer Moment ist der, als auf einer dunklen Bühne das Licht angeht und dort steht ganz allein das Kind und beginnt mit strahlendem Lächeln trotz ewiger Zahnlücke entfesselt zu tanzen. Schluck. "Monday, Tuesday, Happy Days" heißt es in der wohlbekannten Melodie. Die kleinen Mädcchen kommen dazu, das Kind mimt Fonzie aus der Fernsehserie "Happy Days". Später ist es beim klassischen Ballett als Don Quijote in einem wunderbaren kleinen Kostüm zu sehen, in dem es aussieht wie ein Torero. Es gibt Zwischenapplaus, als er das leichteste der kleinen Mädchen in den Armen hält. Ihre Arme und Beine sind ballerinenartig gestreckt in der Luft. Davor Atemlosigkeit. Ich bin sicher, dass 500 Personen das Gleiche denken wie ich: "Jetzt lässt er sie fallen!"

Die vielen Fahrten in die Ballettschule sausen durch meinen Kopf, die vielen Male, die ich das Kind in die Strumpfhose gequetscht habe. Der Groll über Maria Assunta. Die vielen Kalorien in Form von Schleckern, die man dem Kind unmittelbar nach der Tanzstunde in den Mund stopfen muss, weil es sont augenblicklich schlecht gelaunt ist. Es hat sich gelohnt. Das ist ein anderes Kind, das ist ein Teil des Kindes, ein wunderbarer Teil des Kindes, der morgen nicht mehr da sein wird.

Unbekannte Menschen raunen: Wer ist denn dieses Kind?

Mein großer Sohn raunt auch: Das Kind tanzt wirklich gut, nicht wahr Mamma?

Wie eine Perle taucht der Moment langsam in den Ozean, versinkt und bleibt eine Erinnerung.

Am nächsten Tag werfen sich die Brüder bereits wieder Morddrohungen an den Kopf. Und ich hasse die Strumpfhose.

Dienstag, 7. Juni 2011

Referendum

Am 11. Juni hätte der Meilenstein der Geschichte des Theaters südlich der Alpen stattfinden sollen: Die Schulaufführung von "I promessi sposi", in der meine großen Kinder Don Rodrigo und L'Innominato geben. Aber: "Es findet ja das Referendum statt" blafft mich die Direktorin vor ein paar Wochen auf das Datum befragt an. Ich schrecke zurück. Referendum? Habe ich das einberufen? Müssen meine Kinder zu einem Referendum? Nein, die Schule ist Wahllokal ("Sie haben uns den 10., 11. und blabla genommen!" beschwert sich die Direktorin. So eifrige Lehrer gibt es selten.) Am 11. Juni ist offiziell Schulschluss. Meine Kinder werden die Aufführung am 19. haben und an jedem Tag, an dem die Schule weder vorbereitet wird, noch als Wahllokal dient, noch wieder geputzt wird, proben, proben, proben. Außerdem werden sie, da sie in diesem Jahr Null Turnstunden hatten, Jugendspiele abhalten (da dürfen sie dann endlich laufen!). Aber es werden, anlässlich der feierlichen Begehung von 150 Jahren Einheit Italiens, Spiele sein, wie anno dazumal. Sackhüpfen. Für uns heißt das: Jutesäcke besorgen (neben den Theaterkostümen). Erstaunlicherweise gibt es keine Jutesäcke mehr. Aber die weißen, geflochtenen Plastiksäcke, in denen heutzutage Tierfutter transportiert wird, will der Herr Lehrer nicht.
In diesen Tagen muss ich oft an einen Satz von Hans Magnus Enzensberger denken: "Das Gegenteil von gut ist gut gemeint". Ich kann diesen Satz aber nicht ins Italienische übersetzen und daher versteht MM meine Genialität (nämlich die, Enzensberger zu zitieren) nicht.
MM freut sich auf den 12. Juni. Er wird früh aufstehen, frühstücken und anschließend zum Referendum gehen. Er wird einen Trendsetter abgeben. Befragt werden die Menschen, ob die Verwaltung des Wassers in öffentlicher Hand bleiben soll (soll es nämlich nicht, und man muss ein bereits bestehendes Gesetz außer Kraft setzen), ob Italien atomfrei bleiben soll (soll es nämlich nicht) und ob man Politikern Gerichtsprozesse machen darf (was nämlich aus Gründen der Immunität nicht gehen soll). Das Referendum ist also nicht nur eine Möglichkeit der Bürger, Stellung zu beziehen, sondern durchaus dringlich für die, die nicht wünschen, dass Herrn Berlusconis Freunde unser Trinkwasser verwalten und verkaufen, dass Herrn Berlusconis Freunde Atomkraftwerke bauen und Herr Berlusconi selbst sich vor Gericht nicht verteidigen muss. Unumgänglich für eine Bewertung des Referendums ist die Teilnahme von 50% aller Wahlberechtigten plus eine Person, das sogenannte Quorum, das erreicht werden muss. Es wäre zu schön. Sarebbe troppo bello!

Mittwoch, 1. Juni 2011

Keine Rosen, nur Dornen

"Sie wird diesem Mann verzeihen, so wie sie Lorenzo verzeihen wird. Du kennst sie doch. Sie macht das nicht, weil sie so ein guter Mensch ist, sondern weil sie die Freiheit liebt. Der Groll ist wie eine Eisenkugel am Fuß, und sie ist eine, die rennen will." So oder so ähnlich schreibt Olivia Corio in dem Roman, den ich gerade fertig gelesen habe, er heißt "Colpiscimi", was ich jetzt gerade nicht übersetzen kann, da ich nämlich vom Groll übermannt bin. Könnte ich ihn ablegen, wäre ich weniger müde, davon bin ich überzeugt. Vielleicht bin ich nicht so freiheitsliebend wie Mariasole, die Heldin des Buchs, die 90% der Seiten im Koma verbringt. Meinen Groll hat Maria Assunta verursacht, die Tanzlehrerin des Kindes, von der ich noch bis gestern behauptet hätte, sie sei der ernsthafteste Mensch südlich von Bozen bis nach Tamanrasset. Jetzt möchte ich sagen, dass sie genauso ist, wie alle anderen und ich merke, dass mir die letzten Wochen geballten Italientums zugesetzt haben. Ich kann nicht mehr. Ich brauche eine Auszeit, ich brauche einen Kulturwechsel.
Ich muss hier die Schule anrufen, um zu erfahren, wann meine Kinder aus haben, später werde ich aber ohnehin angerufen, dass sie vier Stunden früher abzuholen sind. Das passiert zwei bis drei Mal pro Woche. Ich plane etwas, ich plane alle Eventualitäten ein, aber es gibt immer eine Variante, die ich nicht bedenken konnte. Ich breche meine Arbeit ab, bitte meine Schüler um Verzeihung, arbeite die verlorene Zeit später ein. Wir leben alle für den Tag, nicht für die nächste Woche. Was bei der Regierung beginnt, setzt sich bis zu meinem Mikrokosmus fort.
Eine beruhigende Ausnahme war die seriöse junge Tanzlehrerin, die immer gut vorbereitet ist und rechtzeitig höfliche Briefe schreibt.
Rückblende: Vor zwei Wochen kommt das Kind um fünf Uhr nachmittags nach Hause und sagt: Morgen musst du mich um elf Uhr zu einer Tanzprobe von der Schule aus bringen, wir tanzen Tarantella. Das sind die Sätze, die ich liebe. Ich greife nur nicht nach einem Maschinengewehr, weil ich immer daran denke, dass meine Freundin in der hochzivilisierten mitteleuropäischen Großstadt eines Tages von ihrer Tochter gesagt bekam, sie, die Tochter, müsse übermorgen in einem Leopardenkostüm in der Schule erscheinen, und das im Mai. Meine Freundin hat am nächsten Tag das Leopardenkostüm in einem Second Hand Shop gefunden, es schnell gewaschen und die Lehrerin gefragt, ob sie noch alle Tassen im Schrank hat. Die Lehrerin hat sich entschuldigt. Der Unterschied zu mir ist also nicht SO groß. Ich lebe in keiner Großstadt, habe immer nur bis morgen Zeit und die Lehrerinnen halten sich für völlig normal.
Aber da das Kind gerne tanzt, nehme ich mir am nächsten Tag um elf Uhr Zeit und gehe zur Schule. Ich erfahre, es handelt sich um Proben für eine festliche Aufführung anlässlich des hundertsten Jahrestags der Gründung des Ortskerns der Marina, nachdem die ursprüngliche Siedlung von einem Erdbeben zerstört worden war. Ich erfahre, dass ich das Kind drei Mal pro Woche zur Probe bringen soll, immer am Vormittag. Ich bin irgendwie erschlagen, aber auch enthusiastisch. Das Kind läuft aus der Klasse, gefolgt von seiner Freundin, einem Mädchen, dessen Beschäftigung es bereits mit 9 Jahren ist, sich in alles einzumischen. "Ich kann nicht zur Probe!" ruft das Kind, atemlos, sekundiert von der eifrigen Freundin, "Wir, die wir bei Maria Assunta sind, können nicht, wegen des Balletts!" Ich beruhige das Kind:"Jetzt bin ich schon mal da, gehen wir zur Probe und fragen später Maria Assunta, wo die Unvereinbarkeit liegt." Im Auto weint das Kind, aus Aufregung, aus Angst, etwas Unrechtes Maria Assunta gegenüber zu tun. Seine Lehrerin hat mir erklärt, dass es ausgewählt worden war, an einer Gruppe Tarantellatanz teilzunehmen, andere Kinder singen, andere machen gar nichts. Tarantella ist der hier übliche Volkstanz und es gefällt mir sehr, dass das Kind seine Zeit mit Tarantella statt mit Mathematik verbringen soll. Selbst MM tanzt auf entzückende Weise Tarantella. Ich will die Fähigkeit zu diesem Tanz auch in die DNA des Kindes einprägen. Das Kind hört auf zu schluchzen und wird von mir in einen Saal mit vielen anderen Kindern entlassen. Während der Tarantellastunde telefoniere ich mit MM. Wir sind uns einig, dass es keine Diskrepanz zwischen der Ballettstunde und der Tarantella geben kann und dass wir uns mit anderen Müttern organisieren werden, um das Kind am Vormittag diese Proben absolvieren zu lassen. Nach der Probe ist das Kind aufgelöst und glücklich und ich telefoniere viel und schaue in meinen Kalender. Am nächsten Tag spreche ich mit Maria Assunta, sicher, dass das Problem nur im Kopf der kleinen Freundin existiert. Weit gefehlt. Die sanfte Maria Assunta hebt die Stimme: "Ich kann niemandem verbieten, dort hin zu gehen, aber die Aufführung der Tarantella ist am 9. Juni und bei uns ist die letzte Probe am 9. Juni und wer nicht zur Probe kommt, der darf an meinem Ballett nicht teilnehmen." Auf meiner Stirn leuchtet in Neonfarben die Schrift "110 Euro, in zwei Raten zu 55 Euro für Kostüm Modern und Kostüm Klassisch" auf und ich unterbreche den Redestrom Maria Assuntas kühl. "Dann ist es ja klar." Maria Assunta sagt, sie hätte ein Jahr für ihr Ballett gearbeitet. Ich sage: "Wir auch." Sie sagt, Tanz werde nie ernst genommen, nur wenn es darum ginge, etwas aufzufüllen, sei Tanz plötzlich wichtig. Aber Tanz sei Arbeit und sie arbeite das ganze Jahr und sie sehe nicht ein, wieso dieses Aufführungen immer dann seien, wenn ihr Ballett stattfinde. Aha, das ist also nichts Neues, denke ich. Ihr Ballett wurde tatsächlich bereits um Weihnachten angekündigt und das Leben unserer erweiterten Familie kreist um dieses Datum. In Kürze werden wir zu beten beginnen, dass das Kind nicht krank wird. Ich finde, dass mich Maria Assunta unter Druck gesetzt hat und sie ist mir nicht mehr so sympathisch, aber ich respektiere ihre Arbeit und ihre Ernsthaftigkeit. Das Kind hat mitgehört und beteuert, es mache gar nichts, wenn es nicht mehr Tarantella üben geht. Ich denke, ich muss jetzt nichts mehr organisieren und so hat sich die Sache für mich erledigt.
Bis gestern.
Als ich in der Ballettschule das Kind abholen will, erfahre ich, dass am Donnerstag eine Lektion stattfindet, obwohl es sich um einen Feiertag handelt. Ja, sagen die beiden Mütter, die dort ebenfalls warten, Maria Assunta will den 9. Juni einarbeiten, an diesem Tag ist die Probe abgesagt. WAS?????? Von den anderen beiden Müttern, deren Töchter in die selbe Klasse wie das Kind gehen, erfahre ich, dass unsere Kinder die einzigen seien, die nicht an der Tarantella teilnehmen, andere Kinder der Ballettschule gingen sehr wohl zu beiden Veranstaltungen. Ich möchte mit Maria Assunta sprechen, aber sie ist im Gespräch mit einer anderen Frau, die auch sehr rasch aufgestanden ist, als sie gehört hat, dass (Ironie des Schicksals), die Tarantella vom 9. auf den 8. Juni verschoben wurde. Ich frage mich auch, woher die Leute das alles wissen. Ich schaue in der Bar jetzt manchmal auf die Lokalseite in der Zeitung, aber es hilft nichts, wer nicht regelmäßig eine halbe Stunde vor Schulschluss vor der Schule steht, um sich allen Tratsch anzuhören, wird in diesem Ort immer außen vor bleiben. Dann beschließe ich, nach Hause zu gehen, um mit MM zu sprechen. Seit fast 16 Jahren versucht MM mir beizubringen bis 10 zu zählen, bevor ich losdonnere und ich treffe ihn verschwitzt und mit Erde auf dem Hemd an, da er gerade den Garten bewässert hat: "Ich brauche ein therapeutisches Gespräch!". Wenn MM mich lächerlich findet, ist es fast angenehmer, als wenn er findet, jemand hätte ein schweres Unrecht an mir (an diesem Fall an unserem Kind) verübt. Schweres Unrecht begehen ja seiner Meinung nach nur die Herren (und Damen) rund um unseren Premierminister und ich habe mich schon ein bisschen daran gewöhnt, über diese Riege nur noch zu lachen. Ich bin überrascht, wenn aus Europa Verweise gegen Berlusconi kommen. Und jetzt hat Maria Assunta uns mit derselben Verachtung behandelt, wie Berlusconi die hirnlosen linken Wähler, die aus Milano eine Stadt der Zigeuner machen werden und die größte Moschee Europas dort errichten (womöglich an Stelle des Mailänder Doms...).
An diesem Abend versuche ich alles, um nicht immer daran denken zu müssen, dass Maria Assunta auch eine von denen ist, die schamlos mit der Zeit anderer Leute umgehen, die die glauben, dass ernsthafte Menschen sowieso eine Schraube locker haben. Die versuchen sich zu bereichern, egal an wem, Hauptsache bereichern. Die, die an heute denken, aber nicht an morgen.
Schlussendlich schreibe ich in meinen Kalender einen Termin nach der Ballettaufführung: Mit Maria Assunta reden. Ich hätte den Termin lieber schon heute in meinen Kalender gesetzt. Rancore heißt Groll auf italienisch. Aber ich werde ihr gegenüber das Wort Delusione, Enttäuschung gebrauchen.